Blutbuch ist ein sprachmächtiger, formal radikaler und zutiefst bewegender Roman, der mich nicht nur durch seine Thematik, sondern auch durch seine poetische Struktur fasziniert hat. Kim de l’Horizon ,,macht Schluss’' mit den Strukturen, wie Mensch sie kennt und nimmt einen mit auf eine Reise in eine Welt, die gleichermassen intim als auch universell ist. Besonders berührt haben mich die wiederkehrenden Motive von „Meer“ und der Parallele zum ,,Wasser’'. Kim de l’Horizon vermischt die Begriffe und knüpft neue Ansätze und neue Interpretationen an diese Wörter. Das Wasser erscheint als Ort des Übergangs – zwischen Identitäten, Generationen, zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren. Im Kontrast dazu steht die Blutbuche, die sich wie ein roter Faden durch den Roman zieht. Sie ist ein Symbol für Herkunft, Verwurzelung – aber auch für Erstarrung, für eine Ahnenreihe, die belastet und einen (ver)formt und einem innerlich einen Stempel aufdrückt. Die Blutbuche ist Stammbaum, Familienarchiv, aber auch eine Mahnung an das Anderssein. Sie ist nicht „wie die anderen Bäume“: zu groß, zu rot, zu auffällig. Gleichzeitig birgt sie Ambivalenz: Sie steht für Stärke und Wachstum, aber auch für einen Stolz, der sich manchmal über andere erhebt – wie ein Gewächs, das sich für etwas Besseres hält. Diese beiden Motive – das fließende Wasser und der starre Baum – stehen im Spannungsverhältnis zueinander, genau wie viele der Identitätsfragen, die im Roman verhandelt werden. Es ist gerade diese kunstvolle Verflechtung der Bilder und Themen, die Blutbuch so besonders macht. Der Text tastet sich mutig und verletzlich zugleich an familiäre Traumata, an Sprachlosigkeiten und an die Frage heran, wie man ein „Ich“ erzählen kann, das sich nicht in binären Kategorien fassen lässt. Kim de l’Horizon hat mit Blutbuch ein literarisches Ereignis geschaffen, das formal experimentierfreudig ist und zugleich zutiefst menschlich. Ein Buch, das herausfordert, das sich weigert, sich einordnen zu lassen – und genau darin seine Stärke entfaltet. Für mich ist Blutbuch ein herausragendes Werk der Gegenwartsliteratur, das lange nachwirkt.