Was für ein Werk, es macht gleichzeitig sprachlos als auch laut. Man möchte den Schweizer Behörden laut ins Gesicht schreien. Und Schreien ist noch die gutwillige Variante. Doch handelt es sich auch nicht um gut 300 Seiten Bundesratsbashing, sondern um eine differenzierte Aufarbeitung. Unterteilt ist das Buch in drei Hauptkapitel. Die ersten rund 120 Seiten widmen sich der historischen Einordnung, weitere knapp 120 Seiten rekonstruieren einzelne Schicksale so detailliert wie möglich und weitere gut 50 Seiten führen ein ausführliches Memorial mit einer Liste der Opfer, sowie den nötigen Erläuterungen wie die Liste zustande kam und wie sie zu lesen ist. Aus der historischen Einordnung folgend ein paar Auszüge. Mir fällt gleich zu Beginn auf, wie die Schweizer Gesandtschaft in Berlin dem deutschen Auswärtigen Amt erklärt, wer ein „guter Schweizer“ sei, so heisst es: „So habe Bösch (der KZ-Häftling) seine Militärsteuer stets pünktlich gezahlt. Das gelte in der Schweiz als Beweis dafür, dass ein Wehrmann nichts mit linken Organisationen zu tun habe.“ – Na merci und trotz der in diesem Falle fast schon überwältigenden Fürsprache hält das AA fest: „[…], dass Bösch der verbotenen Kommunistischen Partei nahestehe und wegen seiner staatsfeindlichen Gesinnung völlig zu Recht im Konzentrationslager inhaftiert sei.“ Zu Beginn hatte man mit Paul Dinichert noch einen Schweizer Gesandten in Berlin, der Nazi-Deutschland mit diplomatisch scharfen Mittel und scharfer Sprache die Stirn bot. Die positive Konnotation mit welcher dies im Jahr 2022 gelesen wird, war 1935 noch eine klar negative und zwar von vielen Seiten. So schreiben sie im Buch zu Dinichert und seiner Abberufung: „Paul Dinichert, ein erbitterter Gegner des NS-Regimes, betrachtete die Nationalsozialisten als gefährliche Fanatiker und notorische Lügner. Entsprechend schwer fiel es ihm, in Berlin Kontakte zu knüpfen. Zu den Nazigrössen hatte er überhaupt keinen Zugang. Sein Beharren auf dem Völkerrecht, aber auch sein rechthaberisches Auftreten verstimmten das deutsche Auswärtige Amt. Es drängte auf die Abberufung Dinicherts und versuchte, den ihm genehmeren Hans Frölicher als Gesandten zu installieren.“ Soweit so nachvollziehbar, aber die Kritk kam auch von eigenen Mitarbeitern sowie den Schweizer Journalisten in Berlin. Der Korrespondent der NZZ intervenierte sogar beim Bundesrat, man möge Dinichert ablösen. Doch bezeichnend für die Schweiz heisst es weiter: „Die gewichtigsten Vorwürfe kamen jedoch vonseiten der Wirtschaft.“ – Wir kennen die Schweiz, Dinichert wird abberufen und der deutschlandfreundliche Hans Frölicher wird installiert. SP-Nationalrat Robert Grimm schrieb in der Berner Tagwacht dazu: „Die Nazis erhalten einen schweizerischen Interessenvertreter, der der faschistischen Ideenwelt zumindest nicht allzu demokratisch angekränkelt gegenüber steht“. Wer in heutigen Diskussion gleich von Zensur schreit wenn sein (strafrechtlich relevanter) geistiger Abfall von einer Plattform gelöscht wird. Nein. Zensur geht so, wie im Buch beschrieben: „Wenige Tage nach Kriegsausbruch führte der Bundesrat die Zensur ein. […] Als Richtlinie galt: Die Armee durfte nicht kritisiert, der Bundesrat nicht in seinem Ansehen geschmälert werden. Die Neutralität durfte nicht infrage gestellt werden. Und: Die Zeitungen durften in keiner Weise die ausländische Kriegspropaganda unterstützen.“ Und wieso war dies dem BR so wichtig? Weil es zu regelmässigen Auseinandersetzungen mit dem NS-Regime führte. Hier ein Lob an die Schweizer Presse, die verantwortlich dafür war, dass Frölicher zum Aussenminister Ribbentrop zitiert wurde. So heisst es: „Der Führer sei aufgebracht und habe sich sehr abfällig über die Schweizer Presse geäussert.“ Aus heutiger Sicht kann ich nur sagen: gut so. Aus damaliger Sicht ist es leider nicht ganz so einfach, denn: „Der Gesandte Hans Frölicher war tief besorgt. Er fürchtete, dass die dem NS-Regime mehrheitlich kritisch gegenüberstehende Schweizer Presse Hitler derart in Rage bringen könnte, dass dieser den Überfall auf die Schweiz befehlen würde.“ Die elendige Heuchelei, welche leider auch heute in der Bundespolitik (und ja, wiederholt und besonders hässlich besonders bei der SVP), weit verbreitet ist, wird durch folgende Schilderung offenbar: „In der Regel setzten sich Schweizer Behörden und Diplomaten nur routinemässig für Schweizer KZ-Häftlinge ein, «courant normale» sozusagen. […] Besonders ins Zeug legten sich mehrere Schweizer Politiker, Diplomaten und Beamte für ihnen persönlich nahestehende Häftlinge. Selbst wenn diese keine Schweizer waren. Zu diesen Akteuren gehörten ausgerechnet Heinrich Rothmund und Bundesrat Eduard von Steiger – die Architekten der restriktiven Flüchtlingspolitik.“ Eine weitere interessante Anekdote liest sich zu einem erfolgreichen Gefangenenaustausch wie folgt: „Aus Schweizer Sicht waren die Verhandlungen dagegen ein Erfolg: Sechs Schweizer kamen frei, im Gegenzug wurden sechs deutsche Häftlinge freigelassen. Der Bundesrat billigte den Austausch kommentarlos. «Um grössere Bewegungsfreiheit zu haben, wurde über die Rechtsgrundlage und Rechtswirkungen nichts schriftlich festgelegt», vermerkte Armeeoberauditor Eugster nach dem Krieg. Mit anderen Worten: Der Vorgang war illegal. Er verstiess nicht zuletzt gegen das fundamentale Prinzip der Gewaltentrennung.“ Auch der Umgang mit den, sowie die (sofern sie dann bewilligt wurde) Entschädigung der Schweizer KZ Häftlinge nach dem Krieg wird in der historischen Einordnung erläutert, auch hier keine Ruhmesgeschichte für die offizielle Schweiz. Ebenfalls thematisiert wird die Erinnerungskultur. In der Schweiz fehlt ein Mahnmal, Gedenkstätte oder Gedenktafel für Schweizer Opfer des Nationalsozialismus. Im Buch wird auf eine Interpellation von Angelo Barrile (SP) verwiesen, welche der Bundesrat noch zu beantworten hatte. Inzwischen ist dies geschehen, der Bundesrat war in seiner Antwort auch nicht ausschliesslich abweisend, leider lässt es sich in Parlamentssprech wie folgt zusammenfassen: „18.12.2020 - Abgeschrieben, weil nicht innert zwei Jahren abschliessend im Rat behandelt“. Die Einzelschicksale lesen sich besonders spannend. Anhand der recherchierten Dokumente und mit Hilfe von Angehörigen werden 10 Einzelschicksale genauestens rekonstruiert. Von der Verhaftung bis zur Freilassung, respektive leider oft, zum Tod werden die Interventionen (so sie dann stattfanden) der offiziellen Schweiz dargelegt. Aber auch der sonstige Werdegang der Opfer. Der dritte Teil, das Memorial, ist eine akribisch aufgearbeitete Liste der Schweizer KZ-Häftlinge jeweils auf der rechten Buchseite. Ergänzt durch viele Fotografien und Grafiken auf der linken Buchseite. Ein beängstigendes und so wichtiges Dokument. Das Buch als Ganzes ist ein wichtiges und absolut zu empfehlendes Werk. Pflichtlektüre.