sfederli

  • 17. Juni 2024
  • Beitritt 10. Dez 2020
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  • Gerne lasse ich einige von meinen Beobachtungen einfliessen.

    Ist euch schon aufgefallen, dass jeder Frau ein spezielles Zeichen zugeordnet ist?

    • Zum Beispiel gehört zu Bummi eine Schildkröte, ein erdverbundenes Wesen.

    Jedem Kapitel sind immer 3 Frauen zugeordnet. Ich verstehe sie als unterschiedliche Lebensentwürfe.

    • Zum Beispiel das Kapitle mit Carole, Bummi, LaTisha

    Es geht hier doch um eine Migrationsgeschichte. Dabei verstehe ich Carole und Bummi als Gegensatz.
    Bummi, traditionsverbunden, ihrer Herkunft verpflichtet. Carole ohne Bezug zu ihrer Herkunft, ohne Identität, eine Seconda, welche sich ihren Platz erkämpft.

    Bummi musste aus ihrer alten Heimat fliehen und alles zurücklassen mit der Hoffnung, dank ihrer und Augustines guter Ausbildung, bald einen Neuanfang machen zu können. Dann die Erkenntnis, dass diese Hoffnung sich nicht erfüllen kann und daher Rückzug auf die Bewahrung ihrer kulturellen Identität, ohne welche sie sich wohl auflösen würde. Dies alles wird manifest in ihrer zutage getragenen Würde und in der Strenge zu Carole.

    Nicht grundlos hat sie ihre Tochter Carole genannt. Dies soll ihre Tochter ermöglichen, in der neuen Heimat Fuss zu fassen, eine Chance zu haben, sich zu integrieren. Caroles Adaption der neuen Kultur und komplette Negierung ihrer wahren Herkunft, stürzt Bummi in einen inneren Konflikt. Hier handelt es sich nicht bloss um einen klassischen Mutter-Tochter-Konflikt und einer Ablösung von Zuhause, hier stossen Weltanschauungen aufeinander, die von Afrika und Europa!

    Noch einmal möchte ich euch gerne auf das Motiv der Amazonen hinweisen, welcher sich als roter Faden durch das ganze Buch hinzieht:
    Bummi träumt von einem Heer aus weiblicher Reinigungskräfte aus aller Welt, welche ihre alte Heimat vom Abschaum der Erdölindustrie befreien:
    “sie stellte sich vor, wie sie sich als Millionenschar auf das Nigerdelta stürzten und mit Ihren Wischmopps und Besenstielen, die sich in Speere, Schwerter mit Giftspitze und Maschinengewehre verwandelten, die Ölfilmen von dort vertrieben” (S. 196).

    Was für eine unglaublich starke Metapher!

    Wie sich LaTisha darin einreiht, weiss ich noch nicht, da ich noch nicht so weit mit Lesen gekommen bin aber ich freue mich schon darauf!

    • Shirley
      Zuerst dachte ich, oh nein, nicht dieser unsympathische Drachen! Das wird wohl kein erfreuliches Kapitel. Doch Evaristo zeigt uns eine andere Perspektive und erinnert daran, dass hinter einer speziellen Rolle, die jemand spielt, eine Ursache liegt, die hier wiederum ganz spannend zu lesen ist. Es ist wie ein persönliches Kennenlernen von jemandem, den man schon vom Sehen her kennt. Man erlebt wie die zuerst ambitiöse junge Lehrerin durch das System erdrückt wird. Zu Hause musste sie als Mädchen unten durch, im Schatten von zwei Brüdern. Ihrer Familie hat sie aber gezeigt, wozu sie als Frau fähig ist und hat sich durch ihre Schulbildung hinaufgearbeitet. Am Ende hat sie viel mehr erreicht als sie ihr zugetraut hätten. Diese Erfahrung möchte sie weitergeben und ist völlig frustriert als sie merkt, dass das gar nicht so einfach ist wie sie sich vorgenommen hat. Sie hatte Glück und einen Ehemann gefunden, der sie als gleichwertig behandelt. Ein krasser Kontrast zu der Welt, in der sie aufgewachsen ist.
      Aber was für ein Frust als sie realisiert, dass das romantische Leben mit Lennox und ihre Ambitionen im Beruf doch der ach so schrecklichen, simplen Middle Class verschrien sind. Und sie findet leider den Mut nicht, den Schritt zu machen und sich für eine bessere Stelle zu bewerben oder sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren. Ihre Familie hat sie nicht mit Selbstbewusstsein ausgestattet. Sie stand immer im Schatten ihrer männlichen Geschwister und wurde nicht als intellektuelle Frau wahrgenommen. Das geht dann auch weiter als sie mit Lennox zu Hause auftaucht. Die Eltern und Brüder sind fasziniert von ihm – Shirley geht vergessen. Auch in der Beziehung zu Amma wird sie als Babysitter ausgenutzt. Und auch Carole nutzt sie aus, ohne sich bei ihr für den zusätzlichen Aufwand zu bedanken.
      Evaristo zeigt uns hier eine tragische Figur. Und durch die Tatsache, dass Shirley überraschenderweise doch noch ein ganzes Kapitel gewidmet ist, können wir als Leser (zum Glück) hinter das ‘Arschgesicht Mrs. King’ sehen und versuchen, sie zu verstehen.
      Man spürt förmlich, wie Evaristo Spass hat zu schreiben. Sie scheint mit dem Text zu spielen, indem sie unübliche Formen verwendet. Der Text gewinnt an Leichtigkeit, so dass ich als Leser richtig über die Sätze fliege. Es ist wie Musik. Und auch wie ein Patchwork, das dann am Schluss doch sehr gut zusammenpasst. Mich überrascht es immer wieder, neue Connections zu den anderen Frauen zu erleben. Hier zu Amma. Spannend wieder etwas mehr über sie (und über Carole und LaTisha) zu erfahren, diesmal aus einer frustrierten, eher kritischen Sichtweise.

    • sfederli “Was mir auch schon am Anfang aufgefallen war ist Carole’s Fähigkeit aus patriarchischen, sexistischen, rassistischen Verhaltensweisen in ihrem Beruf ihren Vorteil zu ziehen. Anstatt sich darüber zu ärgern oder sich aufzulehnen, analysiert und wandelt sie die Situationen zu ihrem Gunsten, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. ” Korrekt! Das macht es ja so schwierig, das Patriarchat zu bekämpfen. Um das zu verstehen, können wir Pierre Bourdieu (Soziologe) und seine Thesen hinzuziehen. Ich zitiere mal aus Wiki: “Im Zusammenhang mit der Kategorie Geschlecht verwendet Bourdieu den Begriff der symbolischen Gewalt. Mit der symbolischen Gewalt ist eine mittelbare Form der Gewaltausübung gemeint. Charakteristisch für die symbolische Gewalt ist das nicht bewusste Einverständnis der Beherrschten (Frauen) gegenüber der herrschenden Ordnungsvorstellung. Beide Seiten, die Herrschenden (Männer) und die Beherrschten (Frauen), müssen dafür über ein Verhaltenssystem, über einen Habitus verfügen, in dem dieses Herrschaftsverhältnis eingeprägt ist. So muss man sich die Frage stellen, warum auch in unserer modernen Gesellschaft die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann nicht vollkommen stattgefunden hat. Bourdieu erklärt dieses Phänomen damit, dass der Habitus so tief „verwurzelt“ ist, dass er die erlernten (patriarchalen) Verhaltensweisen und das geschlechtsspezifische Verhalten in der Praxis (oder besser in der Mehrzahl, den Praxen) des sozialen Lebens „vorstrukturiert“. Dies führe dazu, dass die Frauen unbewusst die männliche Herrschaftsordnung akzeptieren und diese selbst wiederum aktiv reproduzieren.” Sprich: Die patriarchalen, sexistischen, rassistischen Verhaltensweisen werden nicht aktiv bekämpft oder hinterfragt, sondern Carole macht in ihrer Situation das, was viele andere wohl auch machen würden: ihren Körper so einzusetzen, dass sie doch einen Vorteil daraus ziehen kann. Nur leider verfestigt sie damit das System.