Hallo Zusammen
Ich neige dazu, Juli-Zeh-Romane regelrecht zu verschlingen. Muss mich auch dieses Mal ein wenig im Zaum halten, um Wichtiges nicht zu übersehen.
Was passt besser in unsere digitale Welt als ein Whatsapp/ E-Mail-Kontakt. Die Datumsangabe sowie der erwähnte russische Angriff auf die Ukraine lassen zu, dass wir die Geschichte genau zeitlich verorten können, nämlich in das Jahr 2022. Politisch ein heisses Jahr: Deutschland braucht einige Zeit, um eine Koalition bilden zu können. Aber ausser dem Hinweis, dass in Tessas Heimat die AfD 28% Wähleranteil hat, ist nichts davon erwähnt. Also doch ein unpolitisches Buch? Oder will es vielleicht gerade zeigen, wo heutzutage die Meinungen gebildet werden. Habe da gerade auch in Erinnerung, warum Armin Laschet gescheitert ist: Ein unbedachter Moment, während eines Treffens in einem überfluteten Dorf, hat er ein Grinsen, ja vielleicht ein Lachen nicht verkneifen können. Dummerweise war eine Kamera gerade in diesem Moment auf ihn gerichtet. Der Shitstorm, auch viral, der dann über ihn erging, bewirkte u.a. Laschets Scheitern. Ich könnte mir vorstellen, dass während des weiteren Wahlverlaufes die Idee zu diesem Buch geboren wurde.
Auch könnte ich mir vorstellen, dass Urban und Zeh sich tatsächlich während der Studienzeit kennenlernten, was dann ab Mitte der 90er Jahre in Leipzig passiert sein könnte. Da mehr hineinzuinterpretieren wäre Spekulation. Aber gemäss ihren Lebensläufen überschneiden sich dort ihre Wege. Juli Zeh ist in Brandenburg Richterin im Ehrenamt und Autorin, Urban u.a. Journalist und Werber. Beide wissen können bei der Beschreibung der Figuren Tessa und Stefan auf Figuren zurückgreifen, die sie kennen, auf Vorgänge, die z.T. passiert sind. Aber die Geschichte ist Fiktion. Dennoch bekommt man einen realen(?) Einblick, was in Hamburgs Verlagshäuser und auf dem Land in Brandenburg so passiert.
Natürlich kommt die Frage auf, warum man sich so verbunden fühltund ein Dialog nicht abbricht, wenn man das «Heu nicht auf der gleichen Bühne hat». Auch hier stelle ich mir vor, dass es für eine funktionierende Demokratie (und ich weiss, dass das Thema Demokratie für Zeh wichtig ist) unabdingbar ist, dass man über alle Differenzen hinweg immer wieder den gemeinsamen Nenner findet, um als Gemeinschaft weiterbestehen zu können. Das ist doch der spannende Kontrapunkt zur gehässigen Stimmung im Verlagshaus, wo es darum geht, Lager zu bilden, seine Position zu verteidigen und nicht von einem Standpunkt abrücken zu wollen. In diesem ersten Kapitel geht es deshalb (wie immer meiner Meinung nach) um die viel zitierte Wokeness, darum dass man undiskutable Standards als Maxime wie Götzenbilder hochhält und wehe dem, der nicht kuscht und mithält. Das Tessa in den Mund gelegte Zitat von Max Liebermann (dt.Maler) vom Januar 1933 (Machtübernahme der Nationalsozialisten) ist dann wohl auch nicht zufällig gewählt, sondern könnte eine Anspielung sein auf die Macht und die Vorgänge in den sozialen Medien: «Ich kann gar nicht so viel essen wie ich kotzen will» (Seite 108). Ist das Buch am Ende eine Warnung davor, dass die Demokratie gerade demontiert wird?
So, das ists für erste von mir, verschone euch vor weiteren gedanklichen Ergüssen. Wünsche allen weiterhin eine spannende Lektüre.