Am Ende des zweiten Teils habe ich ja gefragt:
Was wird wohl jetzt kommen, wohin wird sie sich bewegen? Wie wird ihre neue Welt aussehen, wird sie eine «konstruieren», oder bleibt eine grosse Leere und Unverbindlichkeit?
Ihr Leben geht weiter, jetzt in Madrid, doch ihre Seele bleibt in der Mancha:
Ana Iris versucht ihrem Sohn zu erklären, was es heisst, geboren zu werden in eine verschwindende Welt, die nur noch in Geschichten überlebt, Geschichten vom Wind und von Gottheiten, von Not und von Votivtafeln, die von Rettung erzählen: Ich habe dich auf die Welt gebracht, weil ich dir erzählen muss, was Heimat ist – und das ist Liebe.
Wo Papa im zweiten Teil noch Geschichten erzählte, ist es jetzt an Ana Iris, diese vergangene Welt und Wirklichkeit weiterzutragen (171). Sie erzählt Geschichten von den Grosseltern, vom Abschied von ihnen. Dass ihr eigenes Leben wirtschaftlich prekär ist, ihr Neid, dass es ihre Eltern besser hatten und die Zukunftsaussichten ihrer eigenen Generation düster sind, davon ist nicht mehr die Rede. Weitermachen, wie auch immer, und sich nostalgisch auf die innere Heimat besinnen; die Realität annehmen, wenn auch nicht gutheissen und das Möglichste versuchen ist jetzt angesagt. Und das heisst, weiterhin nach Liebe zu suchen und nach jener Wahrheit, die wie auch immer durchs Leben trägt.
Bei der Geburt ihres Bruders erlebt sie Liebe und begreift erst später im eigenen verliebt Sein: «Dass sich die Welt zu einem Trichter verengt, und dann nur noch er und ich hineinpassen». Und so fragt sie: Wie kann man lieben und gilt das noch heute? Und was ist Heimat? Sie versucht zu beschreiben, was Heimat ist oder war, in der Mancha, dieser riesigen trockenen Ebene, wo Strassen in den Dörfern Lebensraum und Erzählräume sind, wo Don Quijote herumgeistert und man heute noch wie er damals gegen die Windmühlen kämpft, gegen die Windmühlen der Armut und des vergessen Werdens, gegen die Mühlen des Alltags, die Geschichten und Erinnerungen zu Staub vermahlen, der vom heissen Wind davongetragen wird.
Der Erzählton ist assoziativ, es ist, als nähme sie ihren Sohn Regio an die Hand und spazierte mit ihm durch ihre Heimat und könnte diese durch ihre magische Erzählweise wieder auferstehen lassen. Und so wünscht sie sich dann auch, dass ihre verstorbene Grossmutter ihr erscheint; es ist, als wollte sie ihre eigene verschwundene Welt mit aller Kraft zurückholen im Wissen darum, dass diese vergangene Welt endgültig verloren ist, dass diese Heimat auch für ihren Sohn höchstens erzählte Erinnerung, blättern im Fotoalbum bleiben wird. Die Dekonstruktion lässt sich nicht rückgängig machen, und die Suche nach dem, was das Leben trotz und in allem zusammenhält führt wieder zum Glauben – unreflektiert, vor allem durch die Erinnerung an ihre Grossmütter genährt. Sie schreibt ja (S. 200): «Dem, was man glaubt, (…) wohnt mehr Tatsachengehalt inne als dem, was man sieht, weil sich das, was man sieht, ja ständig verändert». Damit knüpft sie auch wieder beim Riesen und bei Don Quijote an:
Sie sucht nach dem, was bleibt, was Halt gibt, was Zukunft gibt, woran man mit gutem Gewissen glauben kann – und wird in ihrer gegenwärtigen Welt nicht fündig. Bleiben Fiktion und Wahnsinn, vergebliches Bemühen, wie es Don Quijote zugeschrieben wird? Oder sind es eben gerade die Geschichten, die Erinnerungen, die Hoffnungen und die Intuition, die dem Leben Richtung und Sinn geben können?
Ich habe den dritten Teil mit Spannung gelesen: er ist verwirrend und erhellend, bringt noch mehr aus dem Leben der Sippe und ihrer Verwurzelung in der Mancha ans Licht. Die Windmühlen stehen in der Mancha, die neuen Windräder, die ihre Energie nach Madrid liefern, auf den Hügeln. Die Distanz der Welten ist riesig, obwohl nur zwei Generationen vergangen sind. Die alten Frauen sagen über die Wahrheit: «Hat man sowas schon gesehen, dann stimmt es also» (S. 44, 245, 251).
Eine interessante, verwirrende, unstete aber liebevolle Lebensgeschichte, die nach Wahrheit und Tragendem sucht und letztlich mitten im Leben weitergeht, ohne endgültige Antwort, dafür mit der Weisheit der Geschichten aus der alten Heimat mutig hofft, liebt und lebt.