sofieaeschlimann

  • 14. März 2024
  • Beitritt 12. Aug 2022
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  • 8521 Punkte
  • 📚📖 taucht erst wieder auf, wenn das Buch fertig gelesen ist
    ❤️ Neuerscheinungen, Lyrik, Schweizer Literatur - alles, was vorsichtig und neugierig mit Sprache umgeht

  • Heinz Helles «Wellen» sind das Gegenstück zu Julia Webers «Vermengung» - sie leben in Zürich mit zwei Kindern in einer Genossenschaftssiedlung. Ehrlich beschreibt Helle seine wellenförmigen Gemütsbewegungen als Vater und Hausmann und erschrickt ab und zu ob seiner Hilflosigkeit und beinahe-Gewalttätigkeiten. Tagebuchartig schildert er das ganz normale Leben – oder den ganz normalen Wahnsinn, beginnt seine langen assoziativen Sätze meist mit «Und …». Wer bin ich in diesem ganzen (Mikro-)Universum fragt sich Helle, und «ich wünschte, ich hätte die Kraft, alles, was ich bisher dachte und war, grundsätzlich zu hinterfragen, ohne es abzulehnen, eine neue, sanftere Perspektive einzunehmen auf mein bisheriges Ich (112)».

    Es ist die ungeschminkte Innenansicht eines ganz normalen Familienlebens, das jede und jeder mit Kindern erleben kann. Besonders eindrücklich sind die Schilderungen der Wellen: von Zuneigung zu zeitweiser Überforderung, vom Lautwerden und Bereuen, von aufsteigender Wut, von Tränen und vom sich und die Kinder beruhigen und sich versöhnen, unspektakulär, ehrlich, offen. Helle versucht, «mithilfe der regelmässigen schriftlichen Dokumentation meines Erlebens zu verstehen, was hier eigentlich so passiert (204)». Ab und zu sind politisch-philosophische Überlegungen eingebaut, Schnipsel aus seiner Forschungsarbeit, die auch Platz haben muss. Ist es Liebe, die Helle sucht, ist es Glück, das vielleicht kommt, wenn man die Dinge beschreibt, wie sie sind und sie annimmt und akzeptiert, ist es die Möglichkeit, das grosse «Nichts», die Sinnlosigkeit zu bannen mit dem gelebten Leben, der Liebe, in der wellenförmigen Nähe zu seinen nächsten Menschen?

    Absolut lesenswert, nicht nur in Ergänzung zu Julia Webers Vermengung.

  • Völlig von den Socken gehauen hat mich Kim de l’Horizon mit dem nun zweifach ausgezeichneten Debütroman “Blutbuch”.

    Da wäre allein die Sprache:

    - bewusst wird hier mit der Satzlänge gespielt, was opulent oder abgehackt wird, je nach Alter und Stimmung der Erzählfigur
    - Deutsch, Neu-Deutsch, Mundart, ein bisschen Französisch und Englisch sind zu einem faszinierenden Sprachteppich verwoben worden
    - all diese treffenden Adjektive, die dem Roman – erneut – Opulenz verleihen
    - und dieses Sprachgefühl: Wie de l’Horizon der Sprache nachforscht, dem Französischen in seiner Alltagssprache, das für die Grossmeer Zeichen des gesellschaftlichen Aufstiegs, aber eigentlich Sprache der französischen Besatzer war; der Sprache im Pflegeheim, wo es keine Personalpronomen mehr gibt ausser dem unpersönlichen “man” und somit alle Bewohner*innen allein durch den Sprachgebrauch ihre Individualität verlieren; und natürlich nutzt de l’Horizon eine gendersensible Sprache, die fast unbemerkt den Text mitprägt, ganz zu schweigen von Neuschöpfungen, wie “absenfen”, an denen ich enorm Freude hatte

    Dann die Erzählstile und -weise: Briefe, Recherchesammlungen, Rückblenden und direkte Ansprachen prägen die fünf Teile der Erzählung und geben ihnen jeweils einen ganz eigenen Stil, eine eigene Tonalität und tragen ebenso zur Vielseitigkeit bei. Wir werden direkt angesprochen und auch auf diese Weise direkt reingezogen in die Geschichte.

    “Ich bitte um einen kleinen Vertrauensvorschuss: Das scheint jetzt alles random, aber Goethe und Parks wie jener von Volksbeschützer Franz werden wichtig sein, um zu verstehen, wie die Blutbuche im Garten meiner Familie landete. I swear!”

    Hinzu kommen die kulturelle Verweise auf andere Bücher, Erzähler*innen, Filme, Musik, teils den einzelnen Teilen als Zitat vorangestellt oder auch als direkte Referenz im Fliesstext, was dem Roman zudem etwas enorm Informatives verleiht.

    Das klingt jetzt womöglich alles etwas überfrachtet, aber das ist es nicht, sondern es fügt sich alles mühelos zu einer genussvollen Lektüre zusammen!

    Und natürlich ist da die Erzählung selbst, dieser Versuch, sich der Grossmutter, der Familiengeschichte zu nähern über die Blutbuche und die Geschichte dieser Baumart, was im dritten Teil fast wissenschaftlich anmutet und sich im vierten Teil beinah wie ein historischer Roman liest, wenn der weibliche Stammbaum der Familie aufgefächert wird. Es ist der Versuch, nicht nur sich selbst vom Erbe vorangegangener Generationen zu befreien, sondern auch die Meer und die Grossmeer zu befreien und neu auf die Welt zu bringen, als eigenständige Personen, losgelöst vom gesellschaftlichen Narrativ (Hausfrau, Mutter etc.). Gleichzeitig ist es Selbstreflektion des eigenen Lebens, der Frage nach Identität, beides im Spiegel der Gesellschaft.

    Ich bin während der Lektüre aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, habe mich begeistern und verzaubern lassen und wurde zum Nachdenken angeregt über unzählige Aspekte – zum Beispiel die Art und Weise, wie wir Geschichten und auch unsere eigenen Geschichten erzählen. Und wahrscheinlich habe ich die Hälfte der erwähnenswerten, grossartigen Aspekte des Buches vergessen zu erwähnen, daher meine Empfehlung: unbedingt selber lesen, es lohnt sich!

  • sofieaeschlimann

    Liebe Sofieaeschlimann,

    ja, diese Sprachlosigkeit ist absolut beklemmend. Immer wieder dachte ich: sags doch, versuchs doch mit irgendwelchen Worten, um mit dem Loch (auch im Innern) nicht allein fertig werden zu müssen. In diesem Sinne ist das Buch für mich nicht nur erdrückend, sondern auch ermutigend für alle, die vor irgend einem “Loch” stehen, eben einfach zu reden!

  • sofieaeschlimann Danke dir für die Erklärung. Das kann ich natürlich nachvollziehen. Ich habe in der Tat angefangen, dieses Buch zu lesen. Bin gerade an der Stelle, als Kaspar sich bei der Polizei in FFO erkundigt. An der Stelle, als er sich mit ihren Eltern trifft und man merkt, wie streng, kompromisslos (und vielleicht sogar gewaltbereit) der (Adoptiv-)Vater ist, konnte ich sehr gut nachvollziehen, dass es für ein vorbelastetes, mental vielleicht nicht allzu starkes Mädchen egal ist, wo die Reise hingeht, solange es sich für sie nur besser anfühlt. Bin gespannt, wie sich alles weiterentwickelt🤩

    • Wenn wir schwarze Löcher vor uns herschieben, fallen wir selbst hinein.

      Was in so vielen Beziehungen geschieht: man traut sich nicht, etwas Unangenehmes auszusprechen, Sprachlosigkeit, Scham, man findet keine Worte, bleibt lieber allein und versinkt in den schwarzen Löchern, die über Nacht grösser werden.

      Eine schlichte, ergreifende Erzählung mit einem Sog, und man hofft immer, hoffentlich findet er endlich Worte, bleibt nicht in seiner Ohnmacht gefangen. Er kennt seine Kühe, ein Meister seines Fachs ist der Bauer Tanner, seine Frau Marie ist gutmütig und verständnisvoll, weiss genau, wann es nichts nachzufragen gilt.

      Tragisch, doppelbödig, ob Bauer oder sonstwer– es könnte auch ein hochangesehender CEO vor einem schwarzen Riesenloch gewesen sein, manche bleiben lieber in ihrem eigenen Elend gefangen, als dass sie jemanden um Hilfe bitten würden.

    • Bestimmt kennst Du das Magazin «LESEN», das viermal jährlich in allen Orell Füssli Buchhandlungen aufliegt und aktuelle & spannende Einblicke in die Welt der Bücher gibt. In der kommenden Ausgabe des Magazins im November dürfen Leserinnen und Leser aus unserem Book Circle persönliche Leseempfehlungen präsentieren!

      Du wärst gerne dabei und möchtest Deinen Leseempfehlung gedruckt im Magazin sehen?

      So machst Du mit:

      • Das Thema für die Empfehlungen lautet wie folgt: Das beste Buch, das ich 2022 bisher gelesen habe.
      • Wähle Dein gewünschtes Buch und schreibe hier im Gespräch einen Kommentar mit dem Buchtitel, Autor:in und Deiner Empfehlung zum Buch. Der Text der Empfehlung sollte maximal 100 Wörter lang sein.
      • Die Empfehlung: Du teilst kurz, worum sich der Inhalt des Buches dreht, Deine persönliche Meinung, was hat Dich am Buch begeistert hat, wem Du es weiterempfehlen würdest…

      Aus allen hier in diesem Gespräch geteilten Empfehlungen wählt das Book Circle Team 4 Empfehlungen für das Magazin im November aus. Die vier Mitglieder werden nach Teilnahmeschluss hier im Gespräch bekanntgeben und per E-Mail kontaktiert. Teilnahmeschluss ist Sonntag, 18. September 2022.

      Wir freuen uns auf Deine Leseempfehlung! 😊📚