Nach dem sehr spannenden formal vielfältigen ersten Teil war ich gespannt, welche neuen Möglichkeiten Martina Clavadetscher findet, die weiteren Porträt-Geschichten zu gestalten!
Es beginnt mit einer etwas bizarren Friedhofsgeschichte, doch dann geht’s ans Eingemachte!
Genial wie sie den verstört-ängstlichen Blick der Mélie (Delacroix: Jeune orphéline au cimetière) in eine fiktive Geschichte umsetzt, verwoben mit der desolaten Situation des trauernden Mädchens und ihren Wünschen und Befürchtungen. Schon wieder eine neue Form, ein Kunstwerk zu betrachten und zugleich Licht ins Dunkel der dargestellten Frau zu bringen. Weiter werden Fäden gesponnen und Verbindungen aufgezeigt, die mir unbekannt waren.
Mit Edouard Manets Olympia und den zwei Models Victorine-Louise Meurent und Laure wird der tägliche Kunst- und Künstlerbetrieb in Paris geschildert. Vor allem wird deutlich, wie diese Frauen – auch wenn sie selber malend tätig waren, sogar besser waren als die sie Porträtierenden – beiseitegeschoben und vergessen wurden.
Wieder aus anderer Perspektive beginnt Clavadetscher mit Joanna Hiffernan und Constance Quéniaux ein Dreifachkapitel, wo’s um Scham, Schöpfung, Leben und Tod geht. Joanna tritt als Geist an der Beerdigung von James Abbott auf, und durch Constance erfahren wir manches über das Pariser Künstlerleben. Interessant auch der Bogen von Scham zu Freizügigkeit, von Abbott zu Courbet, von biederer Verklemmtheit zu freier Liebe. Dabei greift die Autorin geschickt ein zentrales Thema auf, ein Thema sowohl der Malerei als auch des darin gespiegelten Verhältnisses der Geschlechter: «Oh, die Herren, wie sie starren, … Aber sie sehen uns nicht – nur unser Bild» (S.124-125). Spannend auch, wie geschickt Constance sich (wie ein Fluss von der Quelle zur Mündung) durch all die Männer schlängelt, geschickt ihre Stärke – ihren Körper – einsetzt und sich dabei selbst treu bleibt und am Schluss folgert: «Männer haben mir das Leben bezahlt. Aber gelebt habe ich es mit den Frauen» (143).
Das ganze Dreifachkapitel greift spielerisch das Verhältnis der Geschlechter auf, das Begehren und Anschauen oder Anstarren, letztlich an der Oberfläche bleiben und das Geld auf der einen Seite, und das Bemühen, sich selbst zu bleiben, ein eigenes Leben in diesem Fluss der Pariser Zeit selbstbestimmt und lustvoll zu leben.
Mit Augustine Roulin und Vincent van Gogh’s La Berceuse wird die Perspektive umgedreht: die im Bild Porträtierte beschreibt den Künstler, dessen verzehrendes und verwirrendes Feuer, und bleibt etwas ratlos zurück.
Ebenso beschreibt die porträtierte Maori den weissen Gaugin, als Kolonisierte nimmt sie ihre Kultur als Norm und staunt ihrerseits über die Leblosigkeit der europäischen Kunst – was ja umgekehrt die ungestillte Sehnsucht von Gaugin nach Farben konterkariert.
Mit diesem Porträt weitet Clavadetscher noch einmal den Horizont über die europäisch-nordamerikanische Welt hinaus, ich bin gespannt, zu welchen Themen, Kunstgriffen und Geschichten sie uns noch führen wird.