In „Die letzte Fahrt des Zaren“ nimmt uns Jörg Baberowski mit auf eine Reise in das Russland der letzten Zarenjahre – ein Land im Zerfall, in dem sich Ohnmacht, Gewalt und historische Umbrüche zu einem düsteren Panorama verdichten. Und mittendrin: Zar Nikolaus II. und seine Familie – ein Herrscherhaus, das mehr von der Vergangenheit als von der Realität lebte. Was Baberowski in diesem Buch gelingt, ist aussergewöhnlich: Er schildert die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen mit historischer Präzision, verliert dabei aber nie den Blick für das Persönliche. Der Leser wird nicht nur Zeuge eines Regimes, das sich selbst nicht mehr versteht – sondern auch einer Familie, die mit der Welt um sie herum zunehmend fremdelt. Zar Nikolaus II. erscheint in diesem Werk nicht als Tyrann, sondern als tragische Figur: überfordert, zurückhaltend, ein Mann mit festen moralischen Überzeugungen, aber ohne politisches Gespür. Seine Unfähigkeit zu handeln, sein Festhalten an alten Strukturen und seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid seiner Bevölkerung wirken nicht böse, sondern erschreckend menschlich – und gerade dadurch tief verstörend. Auch die Zarin Alexandra und die Kinder werden nicht zur blossen Randnotiz. Baberowski beschreibt ihre Ängste, ihre Isoliertheit und ihre zunehmende Weltfremdheit mit leiser, aber eindringlicher Sprache. Besonders nahe geht die Darstellung der letzten gemeinsamen Reise der Familie – nicht nur geografisch, sondern auch symbolisch: Es ist eine Fahrt ins Ungewisse, die mit jeder Seite bedrückender wird. Der Stil Baberowskis ist nüchtern, fast kühl – aber gerade das macht die Lektüre so eindrucksvoll. Ohne Pathos, ohne überflüssige Ausschmückung zeigt er, wie ein ganzes Imperium zerbricht. Und wie Menschen, die diesen Zerfall eigentlich hätten aufhalten sollen, darin fast still verschwinden. „Die letzte Fahrt des Zaren“ ist kein Roman – und trotzdem liest sich das Buch stellenweise wie eine Tragödie. Wer sich für Geschichte interessiert und verstehen will, wie Staatsversagen, soziale Unruhen und persönliche Schwächen zusammenwirken können, findet hier eine kluge, beklemmende und sehr lesenswerte Analyse. Fazit: Ein eindringliches, erschütterndes Buch, das die letzten Monate des Zarenreichs nicht nur als politischen Umbruch, sondern auch als menschliches Drama erzählt. Baberowski gelingt es, Distanz zu wahren und dennoch nah an seinen Figuren zu bleiben. Eine klare Empfehlung für alle, die Geschichte nicht nur verstehen, sondern auch fühlen wollen.