Hallo zusammen,
ich freue mich sehr, mit euch meine Gedanken zum zweiten Teil zu teilen. Ich habe mir Zeit genommen, um eure Gedanken zu lesen und meine eigenen etwas sacken zu lassen.
Zur Protagonistin und meiner Leseerfahrung: Beim Lesen des zweiten Teils habe ich mich noch stärker mit der Figur der Ich-Erzählerin beschäftigt. Ich habe mich immer gefreut, wenn es kleine Fragmente gab, die Hinweise auf sie als Person gaben. Ich hatte aber auch das Gefühl, dass mir ein Spiegel fehlt – ich lese und erlebe und denke durch ihre Augen, aber ich sehe sie nicht. Ich wäre so gerne einmal vor den Spiegel getreten und hätte die Frau, deren Gedanken und innere Bewegungen ich so gut kenne, auch äusserlich gesehen.
Immer wieder streut Meral Kureyshi Andeutungen zu Herkunft und Biografie ein, doch irgendwie konnte ich sie bis zum Schluss nicht ganz fassen. Das empfand ich als schade – besonders, weil ich gerne erfahren hätte, welche Muttersprache die Erzählerin spricht. Es gibt diese Stelle, in der sie sagt, dass Eric “Mirabelle” in ihrer Muttersprache bedeutet – aber ich konnte nicht herausfinden, welche Sprache das sein könnte. Solche Spuren wollte ich gerne weiterverfolgen, doch sie blieben offen.
Sprachliche und thematische Motive: Sehr gefreut habe ich mich, als auf Seite 116 zum ersten Mal der Satz „Im Meer waren wir nie“ auftaucht. Dass das Meer am Ende noch einmal eine Rolle spielt, hat für mich einen schönen Bogen geschlossen – wie eine Rückkehr zum Ursprung, zum Bild des Wassers, das sich durch das Buch zieht.
Mein Lieblingszitat war eindeutig auf Seite 134: „Meine Eltern haben mich nicht erzogen, ich bin einfach gewachsen.“
Dieser Satz hat mich tief beschäftigt. In meiner Arbeit in der heilpädagogischen Früherziehung denke ich oft über die Frage nach, was Kinder brauchen, um wachsen zu können. Erst durch diesen Satz ist mir bewusst geworden, dass im Wort „erziehen“ das „ziehen“ steckt – und dass man Gras nicht schneller wachsen lassen kann, indem man daran zieht. Zum ersten Mal habe ich das Wort Erziehung dadurch mit einer gewissen Skepsis betrachtet. Ein einziger Satz hat eine lange Gedankenbewegung ausgelöst – das schätze ich sehr an diesem Buch.
Figurenkonstellationen und Dynamik: Besonders spannend fand ich rund um Seite 183 den Moment, als sich die Rollen zwischen Eric, dem Kind, und der Protagonistin vertauschen. Plötzlich übernimmt Eric die Rolle der verantwortungsvollen Person, während die Erzählerin in eine kindliche Haltung rutscht. Dieses Umkehren der Rollen zeigt, wie brüchig Verantwortung und Reife manchmal sind und dass Beziehungen nicht statisch sind, sondern ständig in Bewegung.
Schauplatz, Andeutungen und kleine Rätsel: Was mich ebenfalls beschäftigt hat, war die Frage nach dem Ort. Das Buch spielt ja in der Schweiz, und schon im ersten Teil gab es für mich subtile Hinweise darauf. Ich habe mich gefragt, ob es euch auch so ging, dass ihr diese Spuren weiterverfolgen wolltet?
Im zweiten Teil tauchen solche Andeutungen erneut auf – zum Beispiel die Szene mit dem See und den zwei toten Tannen. Diese Beschreibung hat in mir sofort Bilder aus dem Oberengadin wachgerufen. Ich konnte mir die Landschaft richtig vorstellen und habe überlegt, ob Meral Kureyshi sich an realen Orten orientiert hat oder ob es eher symbolische Räume sind. Hat jemand von euch ähnliche Assoziationen gehabt?
Und dann gab es noch diese Szene mit dem Zähne zählen – ich musste fast schmunzeln, weil ich während des Lesens kurz überlegt habe, ob ich das selbst schaffen würde. Ich merkte dann, dass ich das gar nicht kann, aber ich glaube, ich werde es beim nächsten Mal, wenn ich mich ablenken oder regulieren möchte – so wie es die Protagonistin vielleicht tut – doch einmal versuchen.
Lesefluss, Stil und Bildsprache: Obwohl das Buch dünn ist und viele kurze Abschnitte enthält, habe ich erstaunlich lange daran gelesen. Es ist kein Buch, das man einfach „wegliest“ – dafür ist es zu dicht, zu vielschichtig, zu sprunghaft. Wegen der fehlenden Anführungszeichen und der vielen Wechsel von Orten und Gedanken musste ich sehr konzentriert bleiben.
Für mich fühlte sich das Lesen an wie ein Tauchgang: Man taucht tief hinein, muss immer wieder auftauchen, Luft holen, sich neu orientieren, um dann erneut in diese Tiefe einzutauchen. Man entdeckt Details, Lichtschimmer, vielleicht kleine Lebewesen – Dinge, die einem beim schnellen Vorbeischwimmen entgehen würden. Genau so habe ich dieses Buch erlebt: als konzentriertes, langsames, aber sehr lohnendes Eintauchen.
@LeseLiebe schrieb, dass Kureyshi viel Vertrauen in die Leser:innen hat, dass wir Lücken selbst füllen dürfen – das empfinde ich ganz ähnlich. Gerade im zweiten Teil fand ich es faszinierend, wie viel zwischen den Zeilen passiert.
@Bücherfreundin2025 erwähnte, dass sie über die häufigen Perspektivwechsel manchmal stolpert, aber genau das später als Intensivierung erlebt – das deckt sich total mit meiner Erfahrung. Dieses Stolpern ist fast notwendig, um sich auf die Struktur einzulassen.
Ich kann mich euren Gedanken anschliessen und sie um meine Lesebegegnung erweitern: Für mich war das Buch wie ein stiller, innerer Dialog mit einer Stimme, die ich hören, aber nicht ganz sehen konnte. Und vielleicht war genau das die Absicht der Autorin.
Liebe Grüsse Julie