Soooo… Schon zwei Drittel um, Wahnsinn!
Nachdem im ersten Teil vor allem die kulturelle Diskrepanz zwischen westlicher Welt und China im Mittelpunkt stand und insbesondere die Zustände in den Fabriken war ich gespannt, ob im weiteren Verlauf der Geschichte eine weitere Dimension dazukommen würde - und wurde nicht enttäuscht! Wir haben ja auch in dieser Runde schon darüber diskutiert, welche Rolle Alex’ Religion spielt. Im zweiten Teil wurde mir hierzu vieles klarer (und dann auch wieder nicht). Wir erfahren einiges - leider nur bruchstückhaft - aus der Familiengeschichte von Alex. Für ihn erwächst aus der Tatsache, dass seine Familie aufgrund ihrer Religion verfolgt und ermordet wurde ein Pflichtbewusstsein anderen, weniger Privilegierten (in diesem Fall den Arbeiter*innen in den Fabriken) gegenüber. Gleichzeitig schwindet sein Verständnis für den Vater und er fragt (meiner Meinung nach zu Recht), wie dieser, gerade als Jude, sich an der Verfolgung und Unterdrückung der Arbeiter beteiligen kann. Gleichzeitig führt Ivy Alex - und damit auch uns - in “ihr” China ein, wo uralte Traditionen auf die Interessen einer modernen Gesellschaft treffen. Dieser Teil las sich für mich am spannendsten, da ich, wie viele von euch auch schon geschrieben haben, selber gar keinen Bezug zu diesem Kulturkreis habe. Die Tradition der “Leichengeher” und wie Alex diese ehrt hat mich sehr gerührt, ich fand sie eine der bisher schönsten Szenen im Buch. Wie um uns Lesende nicht allzu sehr in dieser Verklärtheit zu belassen scheint die Passage gewählt zu sein > peedee S. 185: „Dann stand er langsam mit Tränen in den Augen auf, und sagte, wie Hongjin übersetzte, er gehe hinaus, um sich zu erhängen.“ Ich weiss nicht wie es euch ging, aber ich habe den Eindruck, dass man hier wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird, weil der Tod eines geliebten Menschen und vor allem eines Kindes wohl das grösste Unglück im Leben eines Menschen darstellt - da spielt es dann auch keine Rolle mehr, wie man davon erfährt und welche Traditionen geehrt werden.
Die Reise nach Bejing hat mich dann mehr dazu veranlasst, wie ihr teilweise auch geschrieben habt, diverse Fakten zu googeln. Über Tian’anmen habe ich bisher gar nichts gewusst und auch was ein Chinesischer Wasserdrache ist weiss ich erst jetzt.
ErikaA Was denkt ihr von Ivy und Zhang?
Bezüglich Ivy komme ich in einem Punkt überhaupt nicht weiter, vielleicht seid ihr da schlauer: Sie sagt am Anfang, sie sei 36. Sollte die Geschichte zum Zeitpunkt der Erscheinung des Buchs spielen, müsste sie bei dem Tian’anmen-Massaker etwa 7 Jahre alt gewesen sein. Wie realistisch ist es, dass eine 7jährige zu einem solchen Protest mitgenommen wird, und dann auch noch von einer Schwester (die, um das Fass voll zu machen, dann ja deutlich älter hätte sein müssen, wenn sie einen so aktiven Teil bei den Protesten gespielt hat). Ist die Frau, von der sie erzählt, vielleicht ihre Mutter und nicht ihre Schwester, und warum sagt sie das in diesem Fall nicht einfach? Ist sie deutlich älter als 36 und sollte Alex das nicht eigentlich gemerkt haben? Oder war sie 1989 gar nicht selber dabei - warum behauptet sie es dann aber? Oder spielt die Geschichte eventuell einfach viel früher? Was sind eure Überlegungen dazu?
Zur Beziehung zwischen Ivy und Alex gibt der Schluss des zweiten Drittels wie ich finde eine recht gute Erklärung: beide sind voneinander abhängig. Ivy, weil sie mit Alex’ Unterstützung viel mehr Möglichkeiten hat, die Arbeiter*innen zu mobilisieren, und Alex, weil sie ihm die Möglichkeit gibt, sich und vielleicht auch der Welt zu beweisen, dass er ein guter Mensch (wie auch immer man das auslegen möchte) ist und aktiv etwas zur Verbesserung der Situation in der Fabrik beitragen kann. Interessant fand ich in diesem Zusammenhang auch die Überlegung, dass Sex hauptsächlich dazu dient “sich als richtiger Mensch zu fühlen” (finde leider gerade die genaue Textstelle nicht). Dahinter steht wahrscheinlich der Gedanke, dass der Mensch als soziales Wesen andere Menschen um sich herum braucht.