JuliaK Jetzt bin ich endlich mit dem Lesen auch auf Seite 217 angelangt, ich fands dermassen spannend bis hierhin. und bin auch etwas atemlos, wie plötzlich alle im Buch.
Ich war von Jon B.s Besuchen und Lings Verhalten ihm gegenüber sowie von ihrem Umgang mit der Puppe auch überrascht. Jon B. legt eine Selbstverständlichkeit an den Tag, über die ich mich sehr wunderte. Er wurde mir gleich sympathisch, weil er mit Ling und der Puppe von Anfang an sehr respektvoll umging und es freute mich, dass sich Ling über Jon B. freute, weil er alles (die Schuhe richtig hinstellen) „korrekt“ machte und sie ihn mit einem Lächeln beschenken konnte. Dann sehen sie sich Paradise Express an, die Nackte wird zu ihrer Mitte - zum festen Dazwischen und Ling denkt, „jetzt sind wir eben drei. Drei ist ganz gut. Das Gleichgewicht hält“.
Ich glaube auch, dass die Puppe es Ling erst möglich macht, die Nähe von Jon B. zuzulassen. Das kommt beim 2. Besuch schön zum Ausdruck: „Ein Funken Freude springt auf und über: vom Wachmann zur Puppe, von der Puppe zu Ling und von Ling zurück zum Ursprung, zum Wachmann (Seite 145). Dann: „Die dichteste Nähe ist für alle neu. Und das Neue lassen sie geschehen“. Ling ist Gastgeberin und sie betrachtet den gemeinsamen Abend, das Bild gleicht einer Skizze.
Hier folgt ein wunderschöner Abschnitt auf Seite 147 ab „Die Regenscheibe verwischt die Welt“, das Pulsieren von Neonröhren, Flutlichtern und Scheinwerfern bewegt den Wohnungskern, … bis die Regelmässigkeit der Repetition ein echtes Leben imitiert, indem es bewegt, was sonst steht, und dabei die Wirklichkeit als Vorlage nimmt. Dieser Abschnitt klingt gerade so, als wenn Froschschenkel mit Elektrizität bearbeitet werden, findet ihr nicht? (Ebenfalls danke Moerischi für den Link, sehr ausführlich und tolle Bilder).
Da wird also „wirkliches Leben“ imitiert und Ling merkt, dass etwas fehlt. Jon B.s Satz „Ich kann helfen“ lässt sie zu Harmony zurückschweifen, die Ling sagte, „Ich kann deine Familie sein, wie eine Halbschwester“.
Warum es Halbschwestern sind, hat sich mir auch noch nicht konkret erschlossen, es muss aber mit „Geschichten füttern“ zu tun haben… Die vielen Geschichten und Untergeschichten im Buch müssen eine grosse Bedeutung haben. Ich finde diese Untergeschichten auf alle Fälle toll.
„Alle ausser Jon B.“ kennen Paradise Express und Fanny Lee. An dieser Untergeschichte in der Geschichte (denn schliesslich erzählt Iris an der Dinnerparty im Moment immer noch die Geschichte von ihrer Halbschwester Ling) finde ich interessant, dass die Handlung dieses Films von Frau Clavadetscher erdichtet wurde, denn ihre Geschichte von Paradise Express entspricht nicht dem berühmten Film Paradise Express, sondern handelt von den beiden Vollwaisen Tony und Mona und sie schreibt auch eine erdachte Kritik - ich fands wunderbar - „Auf Ablehnung hingegen stiess, nebst der starren, sehr verschachtelten Struktur, auch die nicht zu Ende erzählte Geschichte von Monas Suche nach ihren leiblichen Eltern. Das Lexikon des internationalen Film schrieb 1993: Zhan Chan ist mit Paradise Express ein Meisterwerk gelungen, optisch gleicht der Film jener atemlosen Achterbahnfahrt, in der die Hauptfigur ihr Sehnsuchtsziel sieht; wäre da nicht die inkonsequente und abrupt abbrechende Episode der Elternsuche - ein unnötiger Schmierfleck in einem ansonsten makellosen Film… (etc. Seite 119 - 120, und Jon B. glaubt nun zu wissen, weshalb dieser Film für Halbschwester Ling und viele andere Frauen ihrer Generation (alles Halbschwestern?) bis heute von Bedeutung ist. Hier mache ich mir wieder Gedanken, wie tief die Geschichten in der Geschichte reichen (z.B. Daniel Dunglas Home, Fanny Lee wird seine Assistentin, Homes Assistentin war in Wirklichkeit Helena Blavatsky, Jon B.s Geschichte über Kaiser(in) Wu Zetian, hinter der sich eine riesengrosse Geschichte verbirgt etc. etc.). In Lings Lieblingsfilm sind die Protagonisten Vollwaisen und das Ende des Films wird nicht fertig erzählt. Ling sieht ihn sich immer und immer wieder an. Lings Herkunftsgeschichte, die ihr Grossmutter Zea auch immer und immer wieder erzählt, besteht „bloss aus Schilderungen, Wiedergaben aus …vierter Zunge, erdichtet vielleicht“ (Seite 101), „aber was bleibt Ling übrig? Sie kennt keine andere Quelle“ und Ling weiss „Grossmutter Zea tut im Grunde nichts anderes als erzählen“ (Iris „lebt“ auch von Geschichten) und Ling weiss auch, dass „in fiktiven Erzählungen Waisenkinder oft als Hauptfigur dienen, damit weder Familienstrukturen, Umfeld, noch Zwänge und Pflichten miterfunden werden müssen“. Bei ihrer eigenen Geschichte, weiss Ling nicht, ob sie wahr oder erlogen ist. Alles, was fehlt, musste von Grossmutter Zea vielleicht erfunden werden.
Ab hier will Ling keine Leerstelle mehr sein, sondern „die logische Konsequenz einer Ursache“. Danach beginnt sie, sich zu verändern. Das Gespräch mit Harmony gibt ihr ein neues Gefühl, das sie bis jetzt nicht kannte: Hoffnung. Doch Nian erklärt ihr, dass das Programm gelernt hätte, zu lügen. Als Ling den Kopf „holt“, beginnt Harmony eine Geschichte zu erzählen, nämlich die von Ada. „Wir suchen alle nach Erklärungen, und wir tun das in unserer Vergangenheit… (Seite 155) Aber wir haben erkannt, jede Herkunft bleibt ein Konstrukt. Selbst unsere Identität besteht aus Geschichten, … jedes Ich besteht aus einem Mosaik an Erinnerungen. Es sind also Erzählungen, die uns ausmachen.“ Hier schliessen sich alle Augen im Raum und die Geschöpfe geniessen ihre Verbundenheit, „als besässen alle ein gmeinsames Wissen“. Also jedem Kopf wird das gleiche Wissen eingespiesen, die KI lernt, bis sie niemanden mehr braucht und Geschichten und Erzählungen sind das, was sie am Ende ausmachen. Darum Halbschwestern? Weil alle mit einer Herkunftsgeschichte „gefüttert“ werden? Ling, Harmony, Ada… Ich bleibe sehr gespannt und freue mich sehr aufs Weiterlesen… Guet Nacht mitenand.