Mit Verspätung schiebe ich auch noch schnell meine Eindrücke zum ersten Leseabschnitt hinterher. Bereits bei der Auswahl hatte ich zuerst meine Bedenken bezüglich des Themas Hysterie. Vor und während der Lektüre habe ich deshalb noch einmal ein bisschen nachgelesen darüber. Schlimm, mit wie viel Unwissen und gleichzeitig Überheblichkeit die männliche Welt mit den Frauen umging. Wie alles gewertet wurde und zwar immer negativ und zulasten der Frauen. Sehr wahrscheinlich ging es denn auch den wenigsten Ärzten wirklich darum, zu verstehen, sondern um Ruhm und die eigenen Probleme.
Als ich nach einigem Zögern dann doch zu lesen begann, war ich angenehm überrascht vom eigenwilligen aber sehr angenehmen Schreibstil. Die Wahl der jungen Tänzerin als namenlose Ich-Erzählerin mit ihrem frischen, unverblümten, beinahe amüsierten Blick auf die Geschehnisse in der psychiatrischen Anstalt, nimmt diesen ein wenig den Schrecken und machen sie so ein wenig erträglicher.
Geschickt ist auch die Mischung von historischen Fakten und Fiktion. Vieles ist tatsächlich belegt: Das Krankenhaus Salpêtrière, der Arzt Jean-Martin Charcot, die Tänzerin Jane Avril, die Trickkünstlerin und Medium Eusapia Palladino. Der Arzt mit Bart und deutschem Akzent, der immer alles versteht und und seinen Vorstellungen entsprechend deutet, ist offensichtlich Sigmund Freund, der Jean-Martin Charcot kannte und die Salpêtrière besuchte. Was hingegen mit ziemlicher Sicherheit fiktiv ist, ist das in der einleitenden Anmerkung erwähnte Manuskript. Ein geschickter Kniff des Autors; sein Foto im hinteren Klappenteil hat mir übrigens sofort ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert … Ob und wieviel von den tagebuchähnlichen Notizen der Ich-Erzählerin den Memoiren von Jane Avril entsprechen, kann ich nicht sagen, aber die dem Roman vorangestellten Zeilen würden meiner Meinung nach gut passen.
Fiktiv ist vermutlich auch Cléo, in der die Ich-Erzählerin eine Freundin gefunden hat. Durch sie erhalten wir noch einen etwas anderen Blick auf die Geschehnisse, der mehr von Wut gezeichnet ist und erfahren noch mehr von der Welt ausserhalb der Anstalt. Beides sieht auf jeden Fall mehr einer inszenierten Theater- oder Zaubervorstellung ähnlich. Draussen hat Cléo zu ihrem Nutzen, z.B. im Schachautomaten, mitgespielt, drinnen macht sie nicht mehr mit, kann sich aber auch nicht wehren. Die Ich-Erzählerin hingegen spielt drinnen mit, nachdem sie draussen aufgehört hatte. Übergriffigkeit spielt sicher in beiden Fällen eine Rolle.
Interessant und lustig fand ich noch die Ansicht des Arztes, der den Mensch mit einer Maschine verglich und die Seele, auf die Frage der jungen Tänzerin, als Wartungsfehler beschrieb. Der Schachautomat passt da später auch dazu. Alles Lug und Trug …