Erstaunlich, wie Caroline Wahl mit dem grossen Fieber von Tilda eine Metamorphose schafft, als wäre eine Schwelle überschritten, so dass nun nicht mehr das Chaos und die reine Anstrengung bestimmend sind, sondern die Träume und die offenbar vorhandenen inneren Ressourcen ihre Wirkung entfalten. Nach der Notfallszene mit der Mutter wird deren Krankheit immer nebensächlicher, das Fieber von Tilda ändert die Blickrichtung entscheidend. Sorgfältig entwickelt sich die Handlung zu einem Happyend, das schon beinahe kitschig idyllisch ist. Und doch ist recht fein gezeichnet, wie sich Tilda und Viktor annähern, zuerst selber gar nicht daran glauben, dass es so etwas wie Liebe sein könnte, dass sie als je recht verletzte Menschen ihre Masken fallen lassen und in einer neuen, hingebungsvollen Art zueinander finden können. Bei einigen Stellen wird Tildas Sehnsucht nach «es wird schon gut» sehr deutlich spürbar, wo sie vor Rührung beinahe weint – und nicht mehr vor Schmerz oder Wut.
Die Situation von Tilda und Ida ist auch kaum zum Aushalten, aber Tilda gelingt es mit ihrer Konsequenz und «mathematischen» Haltung (Zahlwörter schreibt sie als Ziffern) nicht aufzugeben, dranzubleiben, Pläne zu entwickeln und zu verwirklichen.
Interessant ist auch die innere Haltung, die mir so wider den ungeduldigen und rasenden Zeitgeist zu gehen scheint, wie sie auf S. 194 zum Ausdruck kommt: «Im Morgengrauen laufen wir zurück. Leider wieder nicht ans Meer, aber das ist okay, denn wir haben Zeit. Wir sind ja erst gerade beieinander angekommen».
Die Libellen als Metapher sind grossartig, und dass der Roman im Schwimmbad sein Ende findet, ist auch stimmig (Tilda wartet, bis auch Victor 22 Bahnen geschwommen hat). Der dialogische Schreibstil gefällt mir, ebenso wie konsequent aus Tildas Optik geschrieben wird: so wird das Buch leicht lesbar und klar verständlich ohne unnötige Nebenschauplätze.
Mir hat das Buch sehr gefallen, gerade nachdem ich einige Romane über zerstörte Kindheiten gelesen habe (Claudia Schumacher, Liebe ist gewaltig; Ursula Fricker, Gesund genug; Rebekka Salm, Die Dinge beim Namen; Daniela Dröscher, Lügen über meine Mutter; Sarah Jollien-Fardel, Lieblingstochter).