Mit nur knapp 200 Seiten könnte man annehmen, dass Die Vegetarierin eine leichte und schnell zu lesende Lektüre sei. Doch dieser Eindruck täuscht gewaltig. Han Kang schafft es, eine Geschichte zu erzählen, die tief unter die Haut geht und einen noch lange nach dem Lesen beschäftigt.
Im Mittelpunkt steht Yeong-hye, eine Frau, die auf den ersten Blick unscheinbar und durchschnittlich wirkt – zumindest aus der Perspektive ihres Ehemanns, der sie zu Beginn des Buches beschreibt. Doch als Yeong-hye eines Tages beschliesst, kein Fleisch mehr zu essen, nimmt die Handlung eine verstörende Wendung. Aus einer scheinbar harmlosen Entscheidung entwickelt sich eine Abwärtsspirale, die zunehmend groteske und psychologisch aufwühlende Züge annimmt.
Die Geschichte entfaltet sich in drei Akten, wobei jeder Abschnitt aus einer anderen Perspektive erzählt wird: die ihres Ehemanns, ihres Schwagers und ihrer Schwester. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Wahn, zwischen Unterdrückung, Trauma und Rebellion. Yeong-hyes innere Welt, die sich Stück für Stück enthüllt, ist ebenso faszinierend wie verstörend. Han Kangs Schreibstil verstärkt diesen Eindruck: nüchtern, präzise und zugleich unheimlich eindringlich.
Man könnte sagen, dass Die Vegetarierin etwas Kafkaeskes an sich hat, es erinnert an das Gefühl des Fremdseins, der Entfremdung vom eigenen Körper und der Gesellschaft. Doch diese Lektüre ist nichts für Zartbesaitete. Die düsteren Themen, die Gewalt, das psychische Leiden – all das macht die Geschichte schwer zu verdauen. Es wäre keine Übertreibung, wenn man dem Buch eine Triggerwarnung hinzufügen würde.
Trotz der Verstörung, die es bei mir ausgelöst hat, hat mich Die Vegetarierin auf eine seltsame Weise fasziniert. Es ist ein Buch, das man nicht einfach aus der Hand legt und vergisst. Es verlangt nach Reflexion, nach Zeit, um sich zu setzen, und vielleicht sogar nach einem Gespräch mit anderen, die es ebenfalls gelesen haben.
Für mich war es eine bereichernde, aber auch sehr intensive Erfahrung. So beeindruckend Han Kangs Erzählweise und ihre Fähigkeit, Abgründe auszuloten, auch ist – in nächster Zeit werde ich wohl nicht erneut zu einem ihrer Bücher greifen. Dafür hallt dieses Werk noch zu sehr nach.
Wer eine literarische Herausforderung sucht und bereit ist, sich auf eine düstere, tiefgründige und symbolträchtige Geschichte einzulassen, dem kann ich Die Vegetarierin empfehlen.