Philipp Tingler ist seit 2014 Kritiker im Literaturclub des SRF und seit 2020 Jurymitglied der Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Er fällt dadurch auf, dass er auf äusserst süffisante Art gnadenlos mit den Werken anderer Autoren ins Gericht geht.
Seit 2000 betätigt er sich selbst als Schriftsteller. 2015 ist sein Roman “Schöne Seelen” erschienen. Er spielt in der Welt der Reichen und Schönen von Zürich, und dieser Welt wird ein ausgesprochen ironischer, oft boshafter Spiegel vorgehalten.
Protagonist ist der Schriftsteller Oskar Canow, den wir zu Beginn der Geschichte am Totenbett einer alten Freundin antreffen. Bevor sie das Zeitliche segnet, vertraut sie ihm ein Geheimnis an, das sie ihr Leben lang mit niemandem geteilt hat. Um dieses Geheimnis wird es später einige Verwirrung geben.
Die Handlung spielt aber fast keine Rolle, denn sie wird erschlagen von der Sprache. Mit ihr kann Tingler allerdings phantastisch umgehen. Ein Grossteil des Textes besteht aus Dialogen. Viele davon sind so kunstvoll geschliffen und gespickt mit Bonmots, dass man sich fragt, wieviele Menschen fähig sind, sich im Gespräch so auszudrücken. Dadurch bleiben die Figuren klischeehaft und blass. Erzählt wird häufig in einem ironisierenden Tonfall, der auf die Dauer ermüdet.
In kleinen Portionen, zum Beispiel als wöchentliche Kolumne in einer Zeitung, wäre diese Art von Text sicher sehr amüsant. Aber hier geht es um einen Roman von 333 Seiten.
Man fragt sich, wie Tingler “Schöne Seelen” beurteilen würde, wenn es das Werk eines anderen Schriftstellers wäre…