Die Geschichte beginnt mit dem Mord an Filas Mutter - der erste Femizid von vielen, von denen die Erzählerin noch erfahren wird, während ihrer Reise durch Italien. In ihrem Roman „Favorita“ gelingt es Michelle Steinbeck, ein eindringliches Gefühl der Entfremdung und dissoziativer Zustände zu vermitteln. Sie erzählt aus der Perspektive der Protagonistin Fila, die oft wie eine schlecht informierte Zuschauerin ihres eigenen Lebens agiert. Die moderne, emotionale Sprache weckte bei mir ein Wechselbad der Gefühle – von Wut, Langeweile, Traurigkeit, Genugtuung. Fragmentarisch wird die Frage beantwortet, wie die Erfahrungen von Fila und ihren Vorfahrinnen ihre Identität in einer patriarchalen Gesellschaft prägen.
Die Beziehungen zwischen den drei Frauen – Fila, ihrer distanzierten Mutter und pragmatischen Großmutter – sind in Filas Erinnerungen eingebettet und in Träumen, wo sie ausgeschmückt werden. Nicht immer war mir klar, wo sich die Erzählung gerade befand. Es formen sich Bilder aus der Vergangenheit, Traumsequenzen und Filas Gedanken in eigene Handlungsstränge, die ineinander fliessen. So erfährt man viel über die Mutter und die Grossmutter oder die Frauen auf der Strasse des Friedens und in der Salamifabrik. Einige Passagen, besonders die detaillierte Beschreibung des vergangenen Mordfalls, sind langatmig, doch die fiebrig-traumhafte Atmosphäre und die nebligen Grenzen zwischen Realität und Traum sind poetisch erzählt – teilweise brillant – auf jeden Fall herausfordernd.
Alles in allem konnte mich das Buch nicht ganz überzeugen: Die Protagonistin blieb bis zu Schluss etwas profillos. Das Ende fiel entgegen der langsamen und immer wieder abschweifenden Erzählung ungeahnt abrupt aus, wenn auch auf eine etwas perfide Art befriedigend.