So, nun bin ich auf so weit…
Ich habe mich beim Lesen auch etwas daran gestört, dass bereits mit Teil 1 Mariannes schwierige Schulkarriere beschrieben wird, welche sich in Teil 2 fortsetzt und dennoch für ein Kunststudium ausreicht. Hier bleibt vieles dem Lesenden überlassen, da nicht explizit beschrieben wird, wie sie diesen Schritt geschafft hat. Es wird verschiedentlich angetönt, dass Mariannes Vater immer wieder Förderlehrpersonen für seine Tochter engagiert. Gut möglich, dass es seiner Initiative zu verdanken ist, dass Mariann trotz ihrer nicht eben stromlinienförmigen Jugend ein Studium absolvieren konnte.
Viele von euch empfinden Edward als abwesend und distanziert. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich das auch so sehe. Allein die Tatsache, dass sie ihn beim Vornamen nennt erweckt bei mir den Eindruck, dass ihre Beziehung weniger eine Vater-Tochter-Beziehung als eine Beziehung zwischen zwei Leidensgenossen darstellt: beide müssen, unabhängig voneinander, den Verlust der Mutter verarbeiten. Verschiedene Textstellen zeigen, dass Marianne sehr früh schon genau beobachtet, wie Edward auf den Verlust der Mutter reagiert und welche Auswirkungen dieser auf ihn hat (z.B. gesundheitlich). Hier wird für mich viel Liebe, Empathie und Fürsorge sichtbar. Mir scheint, Marianne hat entschieden, ihn nicht mit ihrem Kummer zu belasten, sondern selber einen Umgang damit zu finden. Umgekehrt versucht Edward, Marianne zu unterstützen, ohne sie einzuengen. Auch er scheint zu verstehen, dass Marianne das Geschehene auf ihre Art verarbeiten muss. Dafür überlässt er ihr den Hund, den sie sich ohne sein Wissen anschafft, ja stellt nicht einmal Fragen dazu, wo dieser herkommt. Ich denke, alle Eltern, die mit ihren Kindern die Haustier-Diskussion schon führen mussten, könnten ab so viel Grosszügigkeit nur den Kopf schütteln 😉… Aber Edward versteht intuitiv, dass dieses kleine, hilfsbedürftige Lebewesen, um das sich Marianne kümmern kann, eine therapeutische Wirkung auf sie haben wird.
Im zweiten Teil des Romans durchlebt Marianne die Pubertät und wird zur Frau (körperlich wie sozial). Es ist eine Lebensphase, in der wahrscheinlich viele Mütter und Töchter aneinandergeraten, weil vorgelebte Werte, Rollenbilder, Selbst- und Fremdzuschreibungen in Frage gestellt und neu verhandelt werden müssen. Marianne hat aber kein Gegenüber, mit dem sie diese Konflikte austragen kann. Entsprechend richtet sie ihre Aggressionen gegen sich selber, was sich in verschiedenen Verhaltensweisen (Ritzen, Essen) niederschlägt. Gleichzeitig lebt sie aber auch ihre erste romantische Beziehung, bezeichnenderweise auch zu einer Frau. Emily bleibt mir als Charakter allerdings zu wenig greifbar. Ihr Verhalten ist extrem unvorhersehbar und ihre Motive, sich auf Marianne einzulassen, sind für mich nicht ganz nachvollziehbar. So ist es am Ende vielleicht nur Rache (ich vermute, dass Edward und Emilys Mutter eine Affäre hatten und Emily dies mitbekommen hat; woher sollte sonst ihr Wissen über Mariannes Familie stammen?), eine Art von Neid (weil nicht so unabhängig von ihrer Mutter ist wie das Marianne zu sein scheint) oder eine morbide Faszination für Mariannes Schicksal? Nach dem Brand von Mariannes Elternhaus verschwindet Emily auch sang- und klanglos aus Mariannes Leben und man erfährt darüber nichts.
Ich bin sehr gespannt auf den dritten Teil des Buches. Ich nehme an, wir erfahren darin mehr über Mariannes Beziehung zu ihrer eigenen Tochter. Davon verspreche ich mir sehr viel, da ich aus eigener Erfahrung weiss, dass sich die Sicht auf die eigenen Eltern stark wandeln kann, wenn man selber in dieser Rolle ist. Ich merke auch, dass ich je länger je mehr gar nicht unbedingt herausfinden muss, was genau mit Mariannes Mutter passiert ist, da Mariannes Seite - ihre Sichtweise und Entwicklung - eigentlich viel interessanter und aussagekräftiger ist. Geht es von euch auch jemandem so?