Der Anfang transportiert ein Lebensgefühl, als wäre man die schlecht informierte Zuschauerin des eigenen Lebens. Ein boden- und orientierungsloses Gefühl, die Gedanken tragen einen weg, brechen ab, verlieren sich in Träumen. Das Ganze in einem Nebel, der nur ein paar Fetzen freisetzt - und die wollen nicht richtig zusammenpassen. Ein Zitat fasst es passend zusammen: „Ah, dabei wollte ich genau das: belastet werden! Ich fühlte mich, als könnte ich jederzeit wegfliegen, mich auflösen, als wäre meine lückenhafte Existenz ohne Gewicht, nicht echt.“ Michelle Steinbecks Sprache schafft es, atmosphärisches zu transportieren. Das liess in mir abwechselnd, neugierige, lethargische, ungeduldige oder latent aggressive Gefühle aufkommen.
Von den drei Frauen, deren Beziehung und Vergangenheit erfährt man nur Fragmente. Fila wurde als Kind nur wenig über die Herkunft zugemutet, wohl aber über deren Wertung: die Schande, die Bigotterie, die gefährliche Mutter. Die Grossmutter verstiess ihre Tochter, die immer wieder auftauchte und wieder verschwand. Wir erfahren, dass sowohl die Grossmutter, als auch die Mutter den lebensfeindlichen Zwängen einer patriarchischen Gesellschaft unterworfen waren. Die Grossmutter wählte die Anpassung. Die Bigotterie, die sie verurteilte, lebte sie teilweise selbst. Magdalena setzte auf Widerstand. Gleichzeitig wusste sie die patriarchalen Strukturen zu nutzen und führte zwischenzeitlich ein Puff. Sie wird von der Erzählerin grob, sehnsüchtig und selbstzerstörerisch dargestellt. Die Tragik und Ausweglosigkeit der beiden Frauen ist glaubhaft dargestellt und passt realistisch in die jeweiligen Jahrzehnte (die ich mir etwas zusammenreimen musste). Glaubhaft auch, dass sich Fila nicht zugehörig und auch unwirksam fühlt.
Ein vermeintlicher Mord wird als Motiv für die Reise nach Italien dargestellt. Fila projiziert ihre Sehnsüchte auf dieses Land, welches sie verklärt und das sie gleichzeitig ängstigt. Entfremdet auch hier versteht sie die Spielregeln nur lückenhaft. Sie taucht ein, manchmal in Träume, manchmal in reale Handlungen und flüchtet wieder. Die Texte sind noch traumähnlicher, noch unwirklicher zu lesen - als ob sie ohne Einfluss auf das Geschehene wäre.
Der Zettel aus der Urne ist für mich ein Wendepunkt, wo die Geschichte etwas Boden gewinn. Sie führt uns auf den Strassenstrich in Neapel. Paradoxerweise heisst die von Gewalt geprägte Strasse der Frauen Friedensgasse. Das empfinde ich als Symbol für einen misogynen Ort, in dem Frauen Männer befrieden auf das diese möglichst friedlich bleiben mögen. Am Ende ihres Lebens fand Magdalena, alias Favorita, opportun ihre Machtposition innerhalb des patriarchischen Millieus. Sie blieb Ausgestossene, auch in den eigenen Reihen. In Fila scheint eine ungekannte Loyalität gegenüber ihrer Mutter aufzukeimen.
Ich habe die Frauengemeinschaft in der Salamifabrik als realistisch und symbolisch verstanden - die Rakete nur symbolisch. Wie die Amazonen in den Mythen, erbauten sich diese Frauen eine sichere Welt. Sie hatten hart dafür gearbeitet und waren gewillt sie zu verteidigen. Das Mittel der Wahl: Waffengewalt und die Rakete zur Flucht. Dem gewaltigen Inferno können sie jedoch nur wenig entgegensetzen. Die Flucht mit der Rakete gelingt nicht. Hier sehe ich parallelen zum Leben Magdalenas und der Grossmutter.
„Ich will kämpfen, mit Euch.“ Das klingt hier für mich, als dämmere Fila, wie sie tatkräftig auf die Geschehnisse in ihrem Leben Einfluss nehmen könnte. Sie will handeln. Sie macht ein verbindliches und verbindendes Angebot an diese Frauen. Sie will sich belasten und verantwortlich sein, für sich und andere.
Wohin die Geschichte uns führt, kann ich noch nicht abschätzen.