@“Fanny”
Ich muss zugeben, dass ich mich sehr auf dieses Buch gefreut habe, obwohl ich zugleich Respekt vor dem Thema hatte. Wie gut, dass ich mich doch darauf eingelassen habe!
Ich finde sowohl Michelle Steinbecks Schreibstil als auch ihre literarischen und historischen Anspielungen brilliant. Die Dynamik des Buches wechselt sich ab, genauso wie die Dynamiken der Grossmutter, Mutter und Tochter. Während es mir vorkam, als würde die Reise nach Milan und anschliessend nach Neapel durch die Projektion der Erzählerin romantisiert und in ihrer Romantisierung doch realistisch dargestellt werden, ähnelt die Handlung in Neapel nahezu einem Fiebertraum, welcher in Fila eine andere Seite zu wecken scheint.
Die Beziehung zwischen Fila (und auch hier scheint es nicht sicher zu sein, welcher denn nun ihr Name ist, da sie von den Frauen unterschiedlich genannt wird) und ihrer Grossmutter scheint eine warme, mütterliche zu sein. Obschon zwischen beiden Geheimnisse und Unausgesprochenes stehen, scheinen sie eng miteinander verbunden zu sein. Filas Mutter hingegen wirkt teilweise nahezu labil, unzuverlässig und völlig mit sich selbst beschäftigt. Und dennoch ist sie nicht unsympathisch. Wem also glauben, wenn (u.a. im Streit) beide Seiten etwas anderes behaupten und man in der Mitte steht?
Wie bereits erwähnt, romantisiert Fila Italien bei ihrer Ankunft sehr: Etwas, das nachvollziehbar ist, wenn einem die Wurzeln nicht erklärt werden und man sich die eigene Herkunft herbeirreimen muss. Es wird darauf hingewiesen, dass es sich bei der Stadt, in welcher ihre Mutter wohnte, um Neapel handelt, da das lebhafte Chaos und der Lärm charakteristisch für diese sind. Obwohl sich Fila zu Beginn fremd fühlt und von den Einwohnern auch als fremd gesehen wird, scheint sie sich immer mehr dem Trubel hinzugeben.
Ich finde es sehr spannend, dass die Autorin auf Femizide eingeht und diese so explizit in die Handlung und in das Gespräch zwischen Fila und Sorella einbaut (“Sorella” bedeutet im Italienischen übrigens “Schwester”. Zufall? Ich glaube nicht 😉). Mir scheint es, als wäre die Erzählerin aus einer Passivität erwacht, als wäre ihr Entschluss zum solidarischen Kampf genuin.
Am meisten beschäftigt hat mich die Passage, in der die Erzählerin zwischen den Marmorstatuen steht und diese mit ihr zu sprechen beginnen. Der feministische Ton des Buches wird hier bereits angedeutet: Nicht nur geht sie darauf ein, dass der Großteil der in Stein gemeißelten Statuen Männer ist, die sich mit diesen Denkmälern verewigt haben und somit einen sichtbaren und greifbaren Teil in der Geschichte der Menschheit einnehmen, sie spielt auch mit der Macht, die diese hatten (und haben). Sichtbar wird das nicht nur durch die allgemeine Beschreibung dieser Szene, sondern auch durch ihr Spiel mit u.a. Alliterationen: “aufgestellte Büsten von mächtigen marmorweißen Männern” (S. 62).
Weiter oben im Forum ist jemand (@ Engadin) bereits darauf eingegangen, dass in dieser Szene Agrippina erwähnt wird. Agrippina war nicht nur eine Frau, die nicht in das traditionelle Bild der Frau damals gepasst hat und unter anderem durch ihre List ihrem Sohn Nero zum Thron verholfen hat, sie wurde ebenso von diesem umgebracht. Dieses Machtgefälle und der Unterschied zu den anderen Statuen wird in dieser Szene beschrieben, als die Erzählerin kommentiert, wie selbst eine Figur mit weniger Status mit mehr Machtausstrahlung und besserer Körperhaltung dargestellt wird als sie, eine Frau mit dem Status einer Kaiserin.
Das Motiv des in Erinnerung bleibens wird ebenfalls in der Szene mit Sorella gezeigt, in welcher diese Fila Bilder von Frauen zeigt, die durch Femizide umgekommen sind. Währenddessen betont sie, dass diese nicht vergessen werden dürfen und dass aktiv daran gearbeitet werden muss, diese Frauen und ihre Namen in Erinnerung zu behalten.
Ich nehme an, dass die Erzählung weiterhin an Intensität gewinnen wird, während die Erzählerin der Frage auf den Grund geht, wie und durch wen es zu diesem Mord kam.
Bisher finde ich, dass “Favorita” durch den spürbaren feministischen Hintergrund und das Rätsel, vor dem die Erzählerin steht, ein wahnsinnig tolles Buch ist, welches mit historischen und literarischen Referenzen, sowie gezieltem Einsatz von Sprache spielt.
Ich bin sehr auf den nächsten Teil gespannt!