Ein Glück, dass die Flucht aus Gurs so reibungslos verläuft. Aber schade, dass sich die Wege der Gefährtinnen vor den Toren des Lagers sofort und ohne weiteren Kommentar trennen müssen.
Paulette und Lisa profitieren immer wieder davon, dass sie fliessend und praktisch akzentfrei Französisch sprechen. So gehen sie auf ihrer Flucht auch ohne Weiteres als belgische Flüchtlinge durch. Anja ist wirklich sehr unberechenbar und ich fürchte, ohne die Verbundenheit der früheren Tage wäre niemand das Wagnis eingegangen sie unter ihre Fittiche zu nehmen.
Was mich ein bisschen gestört hat, ist die Tatsache, dass Paulette und Lisa bei der Bäuerin Eier stehlen. Lisa wirft zwar kurz die Frage auf, ob dies nicht eine unmoralische Tat sei, aber sie beschliessen der Bäuerin im Gegenzug bei der Gartenarbeit zu helfen. Die Bäuerin gibt den beiden Flüchtlingen jedoch wiederum Früchte und Obst als Lohn für ihre Hilfe im Garten. Natürlich sind die beiden völlig ausgehungert und unterernährt, aber trotzdem finde ich es schon ein wenig fragwürdig, dass sie der Bäuerin tagtäglich zwei Eier stehlen. Insofern sie eine Bäuerin bestehlen, die finanziell wohl selbst nicht gerade auf Rosen gebettet ist und ihnen doch eine passable Unterkunft zur Verfügung gestellt hat. Und in der Hitze des Gefechts lassen sie es auch noch zu, dass der Garten von den Hühnern verwüstet wird, obwohl die Bäuerin eindringlich darum gebeten hat, die Stalltür immer verschlossen zu halten. Wie auch mit der Frage der Gewaltandrohung von @Trylanfyrr vertrete ich nach wie vor die Meinung, dass in so einer Situation andere moralische Massstäbe gelten. Nichtsdestotrotz hinterlässt dieses “Kapitel” bei mir einen etwas bitteren Nachgeschmack. Ich weiss nicht, ob diese Handlung fiktiv oder real ist, finde jedoch, es besteht die Gefahr, dass man dies auf Lisa Fittko als Person übertragen könnte. 🤔
Ich finde im 2. Teil wird ganz deutlich, dass Frankreich und seine innere Ordnung mit Inkraftsetzung des Waffenstillstandes und dem Einmarsch durch Nazi-Deutschland im absoluten Chaos versinkt. Die “Offiziellen” kennen ihre Befugnisse und Aufgaben nicht mehr und lassen sich von Gerüchten oder durch Bestechung leiten. Es herrscht eine grosse Unsicherheit und Angst im Land. Marschall Pétain hat sich in der Waffenstillstandsvereinbarung leider verpflichtet alle Deutschen, Juden oder Flüchtigen, welche in Frankreich Asyl gewährt wurde, auf Verlangen an Nazi-Deutschland auszuliefern. Die Teilung in eine Besetzte Zone und eine Freie Zone, die jedoch eher auf dem Papier frei ist und auch laufend von der Gestapo unterwandert wird, bringt eine riesige Fluchtwelle ins Rollen. Zahlreiche Menschen begeben sich mit ihren wenigen Habseligkeiten auf die Flucht.
Wie Duch auch erwähnt hast @EriS
Doch auch die Freiheit ausserhalb des Lagers ist nicht ungefährlich.
Die Autorin bringt für mich sehr deutlich zum Ausdruck, wie zermürbend es sein muss, wenn man wochen- oder gar monatelang keine Nachricht über den Verbleib seiner Lieben hat. Nebst der Furcht über ihren eigenen Verbleib und den widrigen Lebensumständen macht Lisa sich Sorgen um ihre Familie und ihren Mann Hans. Bei jeder noch so kleinen Nachricht und jedem Gerücht wird man an diese nagenden Sorgen erinnert. Dann auch noch diese unglaubliche Willkür mit der unschuldige Menschen mitten auf der Strasse aufgegriffen und verhaftet, interniert oder ausgeschafft werden. Ein permanenter Druck durch die Strassen zu streifen, um Neuigkeiten in Erfahrung zu bringen oder Verbündete zu treffen, aber gleichzeitg nichts falsch zu machen und bloss nicht auffällig werden. Da ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass Lisa auf der Bank vor dem Postamt in einen minutenlangen Heulkrampf ausbricht. 😔
Mit dem Auftritt von Varian Fry und der teilweisen Familienzusammenführung konnte ich zwischendurch ein wenig aufatmen. Endlich kommt ein Lichtblick in diese zermürbende Hoffnungslosigkeit. Ich hoffe, dass sich Lisa und Hans nicht wieder für längere Zeit trennen müssen, Paulette befreit wird und sich die Wege mit Varian bald kreuzen. Und natürlich hoffe ich, dass Lisa und ihre Lieben bald richtig frei und in Sicherheit sind.