ELIF SHAFAK DAS FLÜSTERN DER FEIGENBÄUME
Die Griechin Defne und der Zypriote Kostas – eine Konstellation wie bei «Romeo und Julia»- leben auf der zerrissenen Insel Zypern mit „Nikosia als einziger geteilten europäischen Hauptstadt", und müssen sich heimlich treffen.
Die beiden Inhaber der Schenke «Die Glückliche Feige» (inmitten des Buches taucht plötzlich auf drei Seiten die Speisekarte des Lokals auf), Y+Y, gewähren ihnen Immunität.
Inmitten dieser Taverne wächst ein Feigenbaum. In regelmässig eingeschobenen Kapiteln erzählt er die Geschichte des von den Wirren um die Insel arg geprägten Liebespaares. Er spricht mit und über Tiere und Pflanzen.
Der Feigenbaum („In unseren Wurzeln verschlungen, in unseren Stämmen verborgen liegen die Spuren der Geschichte, die Ruinen aus Kriegen, die keiner gewann, die Knochen der Vermissten") wird eines Zweiges beschnitten, emigriert nach London, wird dort eingegraben, um den Wirkungen eines schlimmen Sturmes zu entgehen. Am Schluss des Buches lesen wir eine Anleitung, wie man einen Feigenbaum ausgräbt.
Elif Shafak gelingt es hervorragend die politischen Wirren in Zypern – die britische Kolonie wurde 1960 unabhängig und bereits im Sommer 1974, in dem ein grosser Teil des Romans angesiedelt ist, wird Erzbischof Makarios gestürzt– mit der Beziehung zwischen der Türkin und dem Griechen, mit der griechischen Mythologie und biologischen Erklärungen zu verbinden.
Als Kostas’ Mutter ihren Sohn zu ihrem Onkel nach London schickt, beginnt ein schicksalhafter Kreislauf. Defne und Kostas werden scheinbar nur für kurze Zeit getrennt. Während ein Teil des Entwurzelten in den Protagonisten innerlich abstirbt, wächst neues Geäst heran. „Und wie in allen Mythen und Märchen werden Frauen bestraft, die mit den gesellschaftlichen Konventionen brechen, und zwar meist mit einer Massnahme, die die Psyche betrifft, den Geist. (Als Beispiel zitiert die Autorin die Frau von Mr Rochester in «Jane Eyre»)
Die Liebenden finden sich mehr als zwei Jahrzehnte später als Biologe, der sich hauptsächlich für Bäume interessiert und als Archäologin, die versucht, umgekommene Zyprioten in ihren Gräbern zu finden und auszugraben.
Ihre Tochter Ada,des elterlichen Schweigens müde, unternimmt alles, um die Wurzeln der Geschichte freizulegen: „Sie war nie auf Zypern. Defne hatte von Anfang an recht. Warum sollten wir unsere Kinder mit unserer Vergangenheit belasten—oder mit dem Chaos, das wir daraus gemacht haben? Ada gehört einer neuen Generation an, sie ist ein unbeschriebenes Blatt. Ich will nicht, dass sie sich mit einer Geschichte beschäftigen muss, die uns nur Schmerz und Argwohn eingebracht hat."
Gedeiht der Feigenbaum in der Fremde? Können die beiden ihre Liebe retten? Wohin sind Y+Y verschwunden?
Und unterdessen erwachsen dem Feigenbaum stets neue Triebe.
Shafaks geniale Auflösung—so viel sei verraten—ist eine gelungene Verschmelzung: Eine mythologisch begründete Metamorphose löst die grausamen Schicksale auf und lässt die Entwurzelten Fuss fassen.
PS 1: ich frage mich, wann Elif Shafak für den Nobelpreis nominiert wird
PS 2: es hat mich genervt, dass das Adjektiv zypriotisch durchs ganze Buch als zyprisch verwendet wurde; als ich dann aber herausgefunden habe, dass „der Ausdruck “zypriotisch” sich vor allem auf die griechisch sprechenden Bewohner Zyperns bezieht - im Gegensatz zu den türkisch sprechenden, habe ich mich mit der Übersetzerin versöhnt, hat sie doch das richtig Wort für die türkische Autorin eingesetzt.