Hanya Yanagiharas “Ein wenig Leben” ist ein literarisches Schwergewicht – nicht nur wegen seines Umfangs von knapp 1000 Seiten, sondern auch aufgrund der inhaltlichen Wucht. Das Buch erzählt die Geschichte von vier jungen Männern, die sich während des Colleges kennenlernen und deren Freundschaft sie bis in ihre Fünfziger begleitet. Besonders im Fokus steht Jude, dessen Lebensgeschichte von unvorstellbarem Leid, Misshandlung, sexuellem Missbrauch, Selbstzerstörung und Suizidversuchen geprägt ist.
Yanagihara zeichnet Judes Kindheit in erschütternder Detailtreue nach, was beim Lesen einen tiefen Eindruck hinterlässt. Ihr Schreibstil ist so intensiv und bildhaft, dass man sich als Leser mitten in der Geschichte wiederfindet. Die emotionale Sogwirkung des Romans ist enorm – trotz oder gerade wegen der erschütternden Thematik. Die Tragik von Judes Leben ist derart prägnant dargestellt, dass sie einen noch lange nach dem Lesen nicht loslässt.
Doch so beeindruckend der Roman auch ist, gibt es Aspekte, die mich gestört haben. Die langen Kapitel und die zahlreichen Perspektivwechsel zwischen Handlung, Schauplätzen, Zeiten und Personen erschweren den Einstieg und machen den Lesefluss anspruchsvoll. Auch die Vielzahl an Figuren kann verwirrend sein, sodass es mitunter schwerfällt, sich in die Geschichte hineinzufinden. Zudem wirkt die Erzählung insgesamt sehr konstruiert: Alle vier Hauptfiguren sind in ihren Berufen aussergewöhnlich erfolgreich – ein Topjurist, ein preisgekrönter Schauspieler, ein Stararchitekt und ein gefeierter Künstler – und alle verfügen über immense finanzielle Mittel. Auffällig ist auch, dass gesellschaftliche und politische Entwicklungen über die erzählten dreissig Jahre hinweg keinerlei Einfluss auf ihre Welt zu haben scheinen, was die Geschichte in ihrer Gesamtheit unrealistisch erscheinen lässt.
Dennoch bleibt “Ein wenig Leben” ein bemerkenswertes Buch, das tief bewegt, aber auch mit Fragen zur Konstruktion seiner Welt zurücklässt. Es ist thematisch keine leichte Lektüre, aber eine, die unter die Haut geht und die man nicht so schnell vergisst. Besonders hervorzuheben ist das Thema Freundschaft, das in einer aussergewöhnlichen Tiefe dargestellt wird. Die enge Verbundenheit der vier Männer, ihr füreinander Dasein in guten wie in schlechten Zeiten, macht einen bedeutenden Teil der Erzählung aus und verleiht der Geschichte eine emotionale Kraft, die lange nachhallt. Wer bereit ist, sich auf eine schwere, teils verstörende Geschichte einzulassen, wird mit einem intensiven, wenn auch zwiespältigen Leseerlebnis belohnt.