Auf weniger als 100 Seiten gelingt es der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux ein einfühlsames Assemblage vorzulegen, das mit dem Tod ihrer Mutter beginnt und endet und durch viele Rückblenden und Erinnerungen zu einer subtilen Mutter-Tochter-Beziehungsgeschichte aufgefächert wird. Aber noch viel mehr: Statt sich in Gefühlsduseleien zu verheddern, thematisiert Ernaux hochkomplexe gesellschaftliche Wirkmächtigkeiten, die ihren eigenen Lebensweg vom Arbeiterkind zur Autorin mitprägen, beinahe beiläufig in Anekdoten ihres Aufwachsens in der Provinz Nordfrankreichs. Dabei beschreibt sie die unterschwelligen Reibereien, welche dieser ‘soziale Aufstieg’ mit sich bringt. Der stolze Arbeiterinnen-Habitus ihrer Mutter kombiniert mit ihrem gleichzeitigen Streben, dass ihr Kind, also Annie, es eines Tages besser haben soll, führen zu hochkomplexen Dissonanzen und Unbehagen beider Seiten. Aber vor allem gelingt es Ernaux, dieses unausweichliche und doch so schmerzhafte Aushandeln vom Älterwerden (sowohl der Eltern als auch das eigene) und das Abschiednehmen-Müssen von den eigenen Eltern in unserem gegenwärtigen System, unaufgeregt - aber deswegen nicht weniger tragisch - in Worte zu fassen: Pflege- resp. Altersheim, Palliativpflege - und dabei haben wir es hier es mit einer sehr privilegierten Situation zu tun.
Grandiose Gegenwartsdiagnose, obschon im Original bereits 1987 veröffentlicht, das Themen wie Generationen- und Klassenkonflikt vereint; für alle die auch Texte von Didier Eribon und Édouard Louis lesen mögen. Ich werde bestimmt weitere Bücher von Annie Ernaux lesen, da ihr unaufgeregter Schreibstil überzeugt - und gerade dadurch ins Schwarze trifft.