Dieses Buch fand ich zufällig in einem Bücherschrank, Titel und Cover sprachen mich sofort an und der Inhalt hat mich nachher tief bewegt. So wenig wusste ich über die Geschichte der baltischen Staaten!
Es handelt sich um ein Zeitzeugnis aus den Jahren 1941-43 als weite Teile der litauischen Bevölkerung, vor allem die intellektuelle und wirtschaftliche Oberschicht, unter der Herrschaft Stalins deportiert und in Verbannung geschickt wurde. Und dies an einen besonders menschenfeindlichen Ort, an der Laptewsee, der Küste der Arktis. Dalia Grinkevičiūtė ist erst 14 Jahre alt als sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder abgeholt werden. Sie kommen nicht in ein Lager, sondern müssen nach einer zermürbenden Fahrt ihre Unterkunft in der öden Tundra noch vor Anbruch des langen Polarwinters selbst bauen und auch danach jeden Tag schwerste Arbeit verrichten. Viele überleben diese Zeit im Gulag nicht. Als Dalia Grinkevičiūtė mit anfangs 20 die Flucht gelingt schreibt sie ihre Erinnerungen hastig auf und versteckt sie bevor sie dann wieder verhaftet wird. Deswegen vielleicht enden die Erinnerungen auch aprupt, denn der Leidensweg ist noch keinesfalls zu Ende. Diese Erinnerungen, aufgeschrieben auf losen Blättern und vergraben, werden erst 1991 zufällig entdeckt. Heute liegen sie im Museum, und die Geschichte von Dalia Grinkeviciute gehört zum litauischen Nationalerbe.
Trotz des geschilderten Schreckens, Demütigungen und menschlicher Grausamkeiten, liest sich das Buch ‘gut’. Es sind genaue Beobachtungen und lebendige Schilderungen in einer fast literarischen Sprache. Dazu hat bestimmt auch die Herausgeberin und Übersetzerin Vytenė Muschick beigetragen. Im Buch finden sich zudem auch Fotos der Familie aus Litauen und aus dem Verbannungsort Trofimowsk. Ein wichtiges historisches Dokument, von denen es nur sehr wenige gibt, und deshalb heute auch litauische Schullektüre. Eigentlich ein wichtiges Dokument für uns alle und es hat mir wieder einmal vor Augen geführt, an welch privilegiertem Fleckchen Erde wir in der Schweiz heute leben.
Jeden Tag schleppen die Deportierten Stämme hoch zu einem Hügel. Diesen Hügel nennt Dalia Grinkevičiūtė ihr persönliches Golgatha: “Und hier, mit diesem ewigen Seil an der Schulter, auf allen Vieren mit meiner schweren Last, fast am Boden, hier habe ich, Golgatha, stummen Hass und stumme Rache gefühlt gegen alles, was einen Menschen in ein Tier verwandelt, was seine Würde zertrampelt.”