Inhalt
Das Buch ist in verschiedene Abschnitte nach Zeitabschnitten gegliedert, beginnend mit 2015, wo Jiyoung als junge Mutter und Ehefrau ein auffälliges Verhalten an den Tag legt. Sie scheint jeweils eine andere Person zu verkörpern, beispielsweise ihre eigene Mutter oder auch eine frühere Bekannte/Freundin ihres Ehemannes, die sie gar nicht gekannt haben kann, da das Ereignis, von dem sie spricht, 20 Jahre zurückliegt. Der Ehemann, beunruhigt, konsultiert einen Psychiater.
Anschliessend wird in Rückblenden die Geschichte in verschiedenen Etappen aufgerollt. Die Zeit von ihrer Geburt als zweites Mädchen mit einer älteren Schwester, bis zu einem Alter von 12 Jahren. Hier wird thematisiert, wie die Geburt von Mädchen weit weniger willkommen war als die Geburt von Jungen. Das dritte Mädchen, mit dem ihre Mutter schwanger war, wurde abgetrieben. Ihre Mutter hat sehr darunter gelitten. Später kam der von den Eltern ersehnte Junge zur Welt, der den Mädchen gegenüber stark bevorzugt wurde. Auch in der Schule zieht sich die Benachteiligung von Mädchen durch und man erlebt die strenge Bestrafung mit, die aufmüpfige Mädchen erdulden müssen.
In einem späteren Abschnitt gibt es dann doch eine Wende. Die jungen Frauen bestimmen selbst, welchen Berufsweg sie einschlagen wollen. So wird Jiyoung Sprachwissenschaften studieren.
Ein weiterer Abschnitt thematisiert die Stellensuche und Arbeitssituation. Die junge Frau spürt, wie viel schwieriger es für Frauen ist, eine Anstellung zu finden. Männer werden klar bevorzugt. Schliesslich, nach langem Suchen und viel Frust kriegt sie eine Stelle. Sie ist recht zufrieden. Ihre Chefin trägt auch viel dazu bei, dass sie an Selbstbewusstsein gewinnt, aufhört, Kaffee zu bereiten, das Besteck für alle bereitzumachen und abzuwaschen. Dann gibt es Änderungen in der Leitung. Männern werden weniger schwierige Kunden zugemutet. Es ist klar, dass den Frauen weniger Sorge getragen wird - es wird damit gerechnet, dass diese heiraten, Kinder kriegen. Von daher ist man interessiert daran, die Männer behalten zu können.
Weiter geht es um Verlobung, Heirat und die Diskussion um den Familiennamen, Geburt eines Sohnes. Nach und nach muss Jiyoung vieles aufgeben von dem, was sie erreicht hat und in ihrem Leben tun möchte. Ihr Mann erinnert sie daran, dass er ebenfalls viel aufgeben müsse.
Zum Schluss kehrt man zurück in das Jahr, in welchem die Geschichte begonnen hat, also ins 2015 zum Zeitpunkt, als die Symptome, die Jiyoung zeigte, so beunruhigend wurden, dass ihr Mann zu einem Psychiater ging. Hier gibt es einen unerwarteten Switch. Der Erzähler in diesem Kapitel ist der Psychiater. Er überdenkt seine erste Diagnosevermutung, indem er seine eigene Erfahrung in der Ehe reflektiert. Dieses letzte Kapitel schliesst den Bogen auf eine sehr gute Art, ausgesprochen interessant. Und lässt einen dann mit seinen abschliessenden Gedanken sprachlos zurück.
Zum Buch
Beeindruckend ist, wie lebendig die Autorin all die Ereignisse beschreibt. Man kann sehr gut nachfühlen und sich dabei gut eigene Gedanken machen - auch die Situation in der Schweiz überdenken, vergleichen mit früher, beispielsweise der Situation, wie sie noch vor 60 - 80 Jahren war, wie sie meine Mutter erlebt hatte.
Die Autorin greift in diesem Roman einige Themen auf, die für Frauen in Korea sehr präsent und schwierig sind. Die Fragen der Gleichstellung werden ausgezeichnet aufgearbeitet. Sehr angenehm ist, wie sie gekonnt immer wieder die faktischen, gesetzlichen Aspekte und die gesellschaftlichen Normen einfliessen lässt und damit die Lebensgeschichte Protagonisten abrundet. Dies auch immer mit Querverweisen auf entsprechende Quellen. Es sind Themen, die auch in anderen Ländern präsent sind.
Was nirgends diskutiert wird ist der Aspekt der Bedürfnisse der Kinder, was für diese gut ist. Ebenfalls nicht die Situation der Männer, welche gesellschaftlichen Normen für diese gelten und mögliche Schwierigkeiten, neue Formen des Arbeits- und Gesellschaftslebens zu finden. Das würde wohl den Rahmen sprengen und ist vermutlich Absicht. Die Autorin schreibt, dass viele Frauen in der gleichen Situation wie Jiyoung leben und sie diese selbst auch kennt.
Der Erzählstil ist flüssig in einer guten, gepflegten Sprache.
Buchausschnitte
Daehyon (Ehemann von Jiyoung) lachte, denn der Tonfall seiner Frau passte irgendwie nicht zu einer so jungen Person. “Was ist los mit dir? Du klingst schon wie deine Mutter.” “Ab jetzt solltest du immer eine leichte Jacke dabeihaben, mein Schwie-ger-sohn. Früh und abends ist es nicht mehr warm.”
Offensichtlich bereute ihre Mutter, wie ihr Leben verlaufen war und vielleicht sogar die Tatsache, Jiyoung geboren zu haben. Die Kleine fühlte sich wie ein Steinbrocken…"
Die Frau verlieht ihrer Erleichterung Ausdruck, dass nichts passiert sei und bekräftigte zu Jiyoungs Verblüffung, dass das Mädchen keine Schuld träfe. Es gäbe nun einmal auf der Welt zu viele übergriffige Männer, un sie selbst habe auch schon einiges erlebt. Also habe Jiyoung genau richtig gehandelt, man könne nie wissen … Trotzdem möchte ich dir sagen, dass es da draussen weitaus mehr liebevolle Männer gibt.
Die Republik Korea ist unter den OECD-Mitgliedstaaten das Land mit dem grössten Lohngefälle zwischen Männern und Frauen.
Es hatte sie mit grosser Zufriedenheit erfüllt, dass sie genügend Geld zum Leben verdient hatte. Aber das war nun vorbei.
Jiyoung wurde gelegentlich zu einer anderen Person. … Nach eingehender Beobachtung lässt sich sagen, dass sie damit keinen Scherz trieb oder sich damit einen Vorteil verschaffen wollte. Ihr Unterbewusstsein liess sie voll und ganz zu diesen Personen werden.
Meine Frau starrte mich (den Psychiater) eine ganze Weile an und entgegnete dann: “Bevor du eine Diagnose stellst, musst du den Patienten treffen, ihm in die Augen sehen und seine Geschichte anhören. Wie kannst du über dein Kind urteilen? Du bist nicht einmal zehn Minuten am Tag mit ihm zusammen. Woher solltest du so gut über ihn Bescheid wissen?”