Worum geht’s? Autofiktionaler Bericht über einen Schwangerschaftsabbruch mit Anfang 20 im Jahr 1961, über die Kindheit, den gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung und den Hass auf die eigene Herkunft.
Wie liest sich das? Wütend, vulgär und schonungslos offen. Ich-Erzählerin Denise Lesur erspart sich selbst und uns in ihrem Lebensrückblick nichts.
Was ist so besonders? Zunächst einmal die Thematisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Die Ich-Erzählerin schreibt zu Beginn, dass sie in der bisherigen Literatur nichts findet, mit dem sie sich in dieser Situation verbinden kann: «Nichts über mich, über meine Situation, kein einziger Text, der beschreibt, was ich durchmache, nichts, was mir hilft, das hier zu überstehen.» Das ist die Grundmotivation hinter ihrem Schreiben. Besonders ist aber auch die Thematisierung weiblichen Begehrens, weiblicher Lust und wie beides von der Gesellschaft (ihrer Zeit) verteufelt wird. Stark ist einmal mehr Ernaux’ gezielte Wortwahl, zudem, wie atemlos sie über weite Strecken erzählt und wie getrieben ihre Ich-Erzählerin dadurch wirkt. An der Stelle muss natürlich die Übersetzungsleistung von Sonja Finck gewürdigt werden! Ebenfalls herausragend ist die Darstellung der französischen Klassengesellschaft (jener Zeit). Als Denise zur Schule kommt, erscheint ihr alles, was die Lehrerin sagt, irreal. Real ist nur, was sie zu Hause erlebt. Mit den Jahren kehrt sich das um. Je mehr sie sich in ihren gesellschaftlichen Aufstieg verbeisst, in ihre Bildung, umso unwirklicher erscheint ihr alles, was die Eltern machen.
Fazit: Der Einstieg ins Buch fiel mir wegen der vulgären Wortwahl doch recht schwer. Aber ich bin enorm froh, weitergelesen zu haben, denn Ernaux’ 1974 erstmals auf Französisch erschienenes Werk wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die Gesellschaft ihrer Kindheit und Jugend, sondern ist wegen seiner Themen und der sprachlich so eindrucksvollen Umsetzung ein zeitlos mahnender und bedeutender Text weiblicher Befreiung.