Laut Frankfurter Allgemeine[1] basiert Ardones Erzählung auf einem wenig bekannten Kapitel der Nachkriegsgeschichte: In den Jahren 1946 bis 1952 organisierte die Kommunistische Partei Italiens in Zusammenarbeit mit dem Frauenverband UDI die Unterbringung von armen Kindern aus Süditalien im reichen Norden des Landes. Eingebettet in Familien, die der Partei nahestanden, überwinterten sie dort und sollten Zukunftschancen erhalten.
Ihre Eltern mussten sich entscheiden: Sollten sie den Gerüchten glauben, die Kommunisten hackten den Kindern die Hände ab und entführten sie nach Sibirien? Oder lieber auf die Wahrhaftigkeit der gesellschaftlichen Solidarität vertrauen, von der die Partei sprach? Die meisten Eltern entschieden sich für Letzteres. Insgesamt 70 000 Kinder wurden verschickt. Wären sie im Süden geblieben, hätten einige den Winter wegen Krankheit und Hunger nicht überlebt.
In diesem Dilemma von Gerüchten, Versprechen und Ausweglosigkeit im von Hunger und Armut geprägten Neapel besteigt der 7-jährige Amerigo Esperanza den Zug der Hoffnung. In den ersten drei Kapiteln erzählt der Junge in kindgerechter Sprache die Reise, seine Ankunft bei den Pflegeeltern in Modena und seine Rückkehr zu seiner Mama Antonietta. Der von seinen Mitschülern “Nobelpreis” genannte Knabe hat ein Flair für Gerechtigkeit und ist überrascht von der Freundlichkeit und der Grosszügigkeit der Familie Benvenuti. Sein Pflegevater, ein Instrumentenbauer, der möchte, dass er ihn “Babbo“ nennt, schenkt ihm eine Geige.
Zurück in Neapel findet er sich nicht zurecht: Es ist als wäre ich auch ein verstimmtes Instrument und er macht mich wieder neu, bevor er mich dahin zurückschickt, wo ich herkomme. (p.122). Mit seinem Freund Tommasino findet er gar: Wir sind jetzt in 2 Hälften geteilt. (p.171). Nach einem heftigen Streit mit seiner Mutter macht er die Reise nach dem Norden erneut, ohne jedoch seine Mutter zu informieren.
Im vierten und letzten Kapitel kehrt er knapp 50 Jahre später als Amerigo Benvenuti zum Begräbnis seiner Mutter nach Neapel zurück. Nach Treffen mit der Kommunistin Maddalena, die ihm damals Mut zugesprochen hat und seinem Freund Tommasino, der inzwischen Karriere gemacht hat, gelingt es ihm, all die Missverständnisse und die Vorwürfe an sich selbst aufs richtige Gleis zu setzen und zum dritten Mal tritt er die Reise an.
Der Roman ist sehr emotional (vor allem das Begräbnis und die „Überraschung“), teils, vor allem im letzten Teil, sehr berührend geschrieben. Der Leser empfindet Mitleid und Verständnis für den Jungen, hofft auf eine positive Entwicklung. Ardone gelingt es mit einfachen Bildern, wie zum Beispiel dasjenige der Schuhe, einen roten Faden durch das Buch zu spinnen. Sie versteht es, das soziale Gefälle zwischen dem armen Süden und dem reichen Norden ohne Pathos zu schildern. Einige Kritiker monieren aber, dem Kind fehle „der naiv-entlarvende Blick“ auf seine Umwelt. Hat mich nicht gestört. Ich war gefesselt von diesem Roman, einer Kombination historischer Ereignisse, sozialer Analyse, Empathie mit sozial Schwachen und der Schilderung emotionaler Höhen und Tiefen.
Stärken hat der Roman auch in der Beschreibung typischer napoletanischer Figuren wie die Pachiochia und die Zandragliona, die den Grundstein des ärmlichen Lokalkolorits bilden. Am Schluss, als ein Schuhmacher seinen drückenden Schuh in Form bringt, lösen sich auch etliche von Amerigos Problemen. So ist mit der Erwähnung der Schuhe auf der ersten Seite des Romans eigentlich alles vorweggenommen:
Ich hab noch nie Schuhe für mich allein gehabt, ich trage die von den anderen Kindern auf, und immer tun mir die Füße weh. Meine Mama sagt, ich laufe ganz krumm. Kann ich doch nichts für. Das liegt an den Schuhen. Die haben die Form von denen, die sie vorher anhatten. Die machen das, was die anderen vorher gemacht haben, sind woanders herumgelaufen, haben andere Sachen gespielt. Und wenn sie dann bei mir landen, woher sollen sie wissen, wie ich laufe und wo ich hinwill? Sie müssen sich erst an mich gewöhnen, aber bis dahin ist mein Fuß schon wieder gewachsen. Sie werden zu klein und alles fängt von vorne an. Meine Mama geht vor und ich hinterher. (p.7)
(633)
—
[1] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/italien-freunde-russlands-sind-oft-populisten-18203054.html