Die Story ist vermutlich hinlänglich bekannt: Der junge, wunderschöne Dorian Gray schickt beim Anblick seines perfekten Portraits und aus Angst vor dem Altern ein Stossgebet gen Himmel und bittet darum, dass das Portrait an seiner statt altern möge. Als er feststellt, dass sein Wunsch in Erfüllung gegangen ist, nimmt er ein zügelloses Leben auf, verwehrt sich keine Launen, kümmert sich nicht um Moral und stürzt mehr als eine Existenz ins Verderben.
Wilde schreibt als allwissender Erzähler. Der Anfang ist dialoglastig und konzentriert sich auf Basil Hallward, den Maler des Portraits, und Lord Henry Wotton, einen Freund Basils und späteren Mentor Dorians. Lord Henrys Ansichten triefen nur so vor Spott und Zynismus und richten sich gegen alles und jeden. Niemand bleibt verschont von seinen bissigen Kommentaren, nicht die Gesellschaft an sich, nicht die Kirche, die Ehe und Frauen erst recht nicht. Er steht für Hedonismus, Sinnlichkeit und Dekadenz. Ab dem Moment, in dem Dorian in den Fokus der Geschichte rückt, übernimmt er Wottons Zynismus und Werte.
«My dear boy, no woman is a genius: women are a decorative sex. They never have anything to say, but they say it charmingly. They represent the triumpf of matter over mind, just as we men represent the triumph of mind over morals.»
Dorian stürzt sich nicht nur ins Leben an sich, sondern auch in Studien. Wenn Wilde davon erzählt, reihen sich Auflistungen aneinander und der Erzählstil verändert sich entsprechend komplett.
Der Schluss wiederum ist dann wieder dialog- und handlungslastig und treibt unbarmherzig auf das Finale zu. Entsprechend zieht auch die Spannung wieder an und die Stimmung ändert sich einmal mehr.
Allein die wechselhaften Erzähltechniken, die verwendeten Motive, die interkulturellen Bezüge und die unterschiedlichen Stimmungen machen das Buch lesenswert. Darüber hinaus bekommen wir es mit Lord Henry und Dorian Gray mit einmaligen Figuren zu tun, die nicht nur einen scharfen Blick auf die Gesellschaft ihrer Zeit werfen, sondern auch zeitlose Themen behandeln, wie unsere Angst vor dem Altern und die Art und Weise, wie wir unser Leben leben wollen. Lassen wir uns von Gesellschaft und Religion terrorisieren oder lassen wir unserer Lust und unseren Launen freien Lauf? Einen Mittelweg gibt es für Gray und Wotton nicht.
«The Picture of Dorian Gray» kann rein zum Vergnügen gelesen werden. Gleichzeitig bietet es unendlich viel Stoff und zitierwürdige Stellen, mit denen sich eingehender beschäftigen lässt. Das Buch ist eine wahre Fundgrube an Themen, über die auch heute noch stundenlang diskutiert werden kann. (In der Hinsicht ist es empfehlenswert, das Buch gedruckt zu lesen und nicht als eBook, denn in letzteres lassen sich so schlecht Anmerkungen kritzeln ;-))
Es gibt mehrere Versionen von «Dorian Gray». Ich habe die 13 Kapitel lange Originalversion von 1890 gelesen, in der auch die homosexuellen Bezüge vorkamen, die in der späteren, längeren und überarbeiteten Version von 1891 fehlen. Allerdings fehlte 1890 auch das berühmte Vorwort. In dem heisst es «There is no such thing as a moral or an immoral book. Books are well written, or badly written. That is all.» Oscar Wildes «Dorian Gray» ist jedenfalls einfach fantastisch geschrieben und unbedingt lesenswert!