Abenteuer Wald, Abenteuer Mensch - sagt die Broschüre
Ein bisschen Natur wird dir gut tun - sagt die Mutter
Sorry, aber das ist wirklich nichts für mich - sagt die Hauptperson.
Und fährt dann trotzdem für eine Woche in den Wald zum Feriencamp…
Weit weg von Lagerfeueridylle, unverhofften neuen Freundschaften fürs Leben und grossartigen Abenteuern schreibt Saša Stanišić in seinem Buch „Wolf“ über viele Themen und doch im Grunde über das eine, das uns alle angeht: Anders sein und wie damit umgegangen wird. Der Roman beruht auf einer Erzählung des Autors in der Sammlung „Fallensteller“. Diese wird wortwörtlich in den Roman übernommen und dort weiter ausgebaut und weitererzählt. Wunderschön um-malt von den durchweg gelb-schwarz gehaltenen, oft grossformatigen Illustrationen, die zum Weiterspinnen des Gelesenen einladen…
Der Erzähler hält sich nicht mit langen Vorstellungen und Beschreibungen auf, kurz und knapp der Einstieg in die Geschichte. Die Mutter hat Pläne, eine andere Betreuungslösung steht nicht zur Verfügung, also geht es eine Woche ins Ferienlager. Mit dem Grossteil der Stufe überdies, die Rollen sind also von vornherein verteilt und die etwas überfordert beziehungsweise sogar desinteressiert wirkenden Betreuer werden daran in einer Woche nicht viel ändern können. Durch die Zimmerverteilung mit Jörg, dem Aussenseiter der Klasse, zusammengewürfelt, bewegt sich der Erzähler im Spannungsfeld zwischen Opfer und Täter, schaut zu, macht sich viele Gedanken, ohne jedoch wirklich aktiv zu werden und klar Stellung zu beziehen. Dabei, das wird im Roman immer deutlicher, liegt gerade darin eine Schlüsselrolle - in der Präsenz, im Hinsehen. Sei es der Koch, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort erscheint, eine Lehrerin mit Mut zu ungewöhnlichen Methoden oder auch nur das Da-Bleiben des Erzählers in einer kritischen Situation.
Der geheimnisvolle „Wolf“ aus dem Titel gibt wie das gesamte Buch viel Spielraum zu Interpretation und zur Selbstbetrachtung. Immer wieder ist es am Leser, sich zu positionieren, zwischen den Zeilen zu lesen und sich eine Meinung zu bilden. Die vage bleibende Hauptperson bildet überdies eine exzellente Möglichkeit zur Identifikation, es spielt zumindest für mich letzten Endes gar keine Rolle, ob ein Junge oder ein Mädchen hier erzählt oder wie die Hauptperson genau aussieht. Für mich als erwachsenen Leser bildet das Buch eine gute Grundlage zur Diskussion, zum Teilen und gemeinsam Nachdenken über die Themen Anders sein, soziale Rollen in der Gemeinschaft und Mobbing und hat mich daher sehr angesprochen. In Ausschnitten könnte ich es mir auch gut als Schullektüre für ältere Schüler vorstellen, die hoffentlich genauso viel Spass wie ich am trotz ernster Thematik lockeren und witzigen Schreibstil sowie einer gut erzählten Geschichte finden. Vorlesen beziehungsweise lesen lassen würde ich es jüngeren Kindern ab 10 nur bedingt, da einige Szenen mit dem Wolf doch recht gruselig daherkommen.
Insgesamt habe ich die Lektüre sehr genossen, der Autor schreibt pointiert, mit grosser Feinfühligkeit und sehr guter Beobachtungsgabe. Die (Jugend)Sprache wirkt für mich authentisch, ohne ins Aufgesetzte oder Bemühte abzudriften. Ich sehe das Buch weniger als reinen Kinder- und Jugendroman, eher als eine Studie oder Momentaufnahme, die sich auch und gerade für erwachsene Leser, gerne in Begleitung ihrer Kinder, lohnt. Es war mein erstes, jedoch sicher nicht das letzte Buch von Saša Stanišić!