Zwei Filmemacher wollen einen Film über Peter Stamm drehen. Also schreibt Stamm ein Buch über zwei Filmemacher*innen, die einen Film über einen Schriftsteller drehen wollen.
Ein solches Spiel mit mehreren Ebenen, die sich verschränken, ist typisch für Stamm. Er kann die Ebenen innerhalb weniger Absätze verschwimmen lassen: Zum Beispiel treffen sich Andrea und Tom, die Filmemacher*innen, mit dem Schriftsteller Richard Wechsler in einem Café in Paris. Später ist Wechsler in Andreas Hotelzimmer, aber das denkt sie sich nur aus, denkt an der Begegnung weiter, und noch einmal später taucht diese Szene dann unter dem Filmmaterial auf Andreas Computer auf, dabei wurde sie gar nicht gefilmt. Oder doch? Solche Verschiebungen geschehen ganz unbemerkt, da Stamm immer im Indikativ schreibt (ohne »hätte« oder »wäre«). Dadurch entsteht eine schillernde Stimmung, in der alles möglich scheint. Was tatsächlich passiert ist und was sich die Figuren nur vorstellen, kann kaum entschieden werden. Und warum sollte es auch, schliesslich ist ja der ganze Text nicht tatsächlich passiert, sondern von Stamm erfunden worden.
Anordnungen mit mehreren Ebenen gibt es bereits in anderen Texten von Stamm. Im neuen Roman kommt allerdings eine Ebene dazu, die die Komplexität erheblich erhöht. Es gibt ja nicht nur den Film im Roman über den Schriftsteller Wechsler, sondern noch den echten Film über den echten Schriftsteller Stamm. (Die Romanfigur Wechsler entspricht übrigens natürlich nicht dem realen Schriftsteller Stamm, obwohl sie ein paar Gemeinsamkeiten haben.) Der Film im Roman scheitert, Andrea und Tom entfremden sich. Den echten Film aber gibt es, er heisst Wechselspiel und wurde am 22. Januar 2023 in der Sternstunde Kultur gesendet. In diesem Film geht es um den realen Schriftsteller Stamm, der in Paris in einem Atelier schreibt, durch sein Heimatdorf Weinfelden geht oder mit einer Pfarrerin spricht. Es geht im Film aber auch um Andrea und Tom, die von zwei Schauspieler*innen gespielt werden und erzählen, warum ihr Film gescheitert ist. Dabei sprechen sie unter anderem Texte aus Stamms In einer dunkelblauen Stunde (weshalb ich empfehlen würde, zuerst den Roman zu lesen). Sie sprechen aber auch die Interviewfragen an den realen Autor Stamm, was ein Sprung zwischen den Ebenen, eine Metalepse ist. Der Film Wechselspiel ist damit genau so eine spielerische, schillernde Mischung aus Fakt und Fiktion wie der Roman.
Zusammengefasst: Zwei Filmemacher wollen einen Film über Stamm drehen, also schreibt Stamm einen Roman über zwei Filmemacher*innen, die einen Film über einen Schriftsteller drehen wollen, und im Film über Stamm geht es dann auch um diesen Film. Zusätzlich hat Stamm in seinem Roman das Medium des Films berücksichtigt. Zum Beispiel wird eine bestimmte Bildeinstellung beschrieben oder die Szenen werden durch Schnitte voneinander separiert.
Wer findet, das klinge jetzt aber sehr kompliziert – das ist es beim Lesen nicht. In einer dunkelblauen Stunde ist genau so sanft und sprachlich präzise wie alle anderen Texte von Stamm. Man muss sich um die Vermischung von Ebenen beim Lesen nicht kümmern, es ist auch einfach ein schöner Roman über eine orientierungslose, schnoddrige Filmemacherin, einen zurückgezogen lebenden Schriftsteller und dessen Jugendliebe.