Ana Iris Simon taucht unvermittelt ein in das Spanien, das nicht mehr ist, die Trauer über den Verlust der Heimat und die Nestwärme des Clans, die Einfachheit des Lebens in der Mancha, die Ideale der Revolution und die unbeschwerte Kindheit. Die Ungewissheit darüber, was denn das heute ist, ob das denn noch das Spanien ist, das ich kenne und liebe und das mir Zukunft verspricht ist gross. Das Gefühl überwiegt, verloren zu haben, es schlechter, ungewisser zu haben als die eigenen Eltern, und in der neuen Unbestimmtheit und Beliebigkeit eben auch die Einzigartigkeit verloren zu haben, als Spanien roch nach Arbeitsküche, Grossmutter und der selbst hergestellten Seife.
Was ist das Leben, wer lebt, und wer kann einmal sagen, er habe gelebt? Jemand wie Ana Iris’ Mutter, die expandiert, in neue Welten vorstösst, sich nicht darauf reduzieren lässt, Pöstlerin und Mutter zu sein?
Eindrücklich wird beim Eintritt in die Schule die Bewegung aus der Geborgenheit des Dorfs hinaus und weg von der Verwandtschaftsclique Richtung Verlorenheit der Stadt geschildert.
Dann ist Ana Iris in Rückblenden wieder auf der Fería (so auch der Originaltitel), auf den Märkten, bei ihren Grosseltern, und mit Wehmut wird das Entschwinden dieser alten vertrauten Welt geschildert, der Verlust einer kindlichen Geborgenheit. Gleichzeitig wird ihr bewusst, wie sie sich schämte, zu den Gitanos gezählt zu werden, und wie wichtig es war, die Armut und die Marktfahrerei zu verstecken, eben nicht zum Lumpenproletariat und zum Abschaum der Gesellschaft zu gehören. Momente der Geborgenheit werden erzählt mit Papa, der so vollkommen in Geschichten lebte und mit seiner Art Ana Iris ansteckte, selbst zu schreiben.
Kindlich und sprunghaft beschreibt sie ihr eigenes Leben: von der kleinen Welt der Sippe in der Mancha, gespickt mit philosophischen und politischen Sprenkeln. Insgesamt lustvoll und etwas ratlos dekonstruiert sie ihre Welt. Auch wenn ihr Leben jetzt – heimatlos – in Madrid weitergeht, ihre Seele bleibt in der Mancha.
Sie versucht ihrem Sohn zu erklären, was es heisst, geboren zu werden in eine verschwindende Welt, die nur noch in Geschichten überlebt. Wo Papa im zweiten Teil noch Geschichten erzählte, ist es jetzt an Ana Iris, diese vergangene Welt und Wirklichkeit weiterzutragen (171). Und so erzählt sie im dritten Teil Geschichten von den Grosseltern, vom Abschied von ihnen. Dass ihr Leben wirtschaftlich prekär ist und die Zukunftsaussichten ihrer eigenen Generation düster sind, davon ist nicht mehr die Rede. Weitermachen, wie auch immer, und sich nostalgisch auf die innere Heimat besinnen; die Realität annehmen, wenn auch nicht gutheissen und das Möglichste versuchen ist jetzt angesagt. Und das heisst, weiterhin nach Liebe zu suchen und nach jener Wahrheit, die wie auch immer durchs Leben trägt.
Sie beschreibt ihre Heimat in der Mancha, dieser riesigen trockenen Ebene, wo Strassen in den Dörfern Lebensraum und Erzählräume sind, wo Don Quijote herumgeistert und man heute noch wie er damals gegen die Windmühlen kämpft, gegen die Windmühlen der Armut und des vergessen Werdens, gegen die Mühlen des Alltags, die Geschichten und Erinnerungen zu Staub vermahlen, der vom heissen Wind davongetragen wird. Es ist, als nähme sie ihren Sohn Regio an die Hand und spazierte mit ihm durch ihre Heimat und könnte diese durch ihre magische Erzählweise wieder auferstehen lassen im Wissen darum, dass diese vergangene Welt endgültig verloren ist, dass diese Heimat auch für ihren Sohn höchstens erzählte Erinnerung, blättern im Fotoalbum bleiben wird.
Jetzt, wo die alte Welt dekonstruiert ist, sucht sie nach dem, was bleibt, was Halt gibt, was Zukunft gibt, woran man mit gutem Gewissen glauben kann – und wird in ihrer gegenwärtigen Welt nicht fündig. Bleiben Fiktion und Wahnsinn, vergebliches Bemühen, wie es Don Quijote zugeschrieben wird? Oder sind es eben gerade die Geschichten, die Erinnerungen, die Hoffnungen und die Intuition, die dem Leben Richtung und Sinn geben können?
Ist es das, was die alten Frauen über die Wahrheit sagen: «Hat man sowas schon gesehen, dann stimmt es also».
Mir gefällt das Buch, die lebendige Erzählweise, eben wie es so wuselt in einer spanischen Verwandtschaft (klar heissen alle Maria …), wie sich Tradition und aktuelle politische Themen vermischen und im Ganzen drin eine erfrischende Unbeschwertheit spürbar wird, die aber in den hinteren Kapiteln einer Verlorenheit und Ungewissheit weicht. Treffend beschreibt sie das Lebensgefühl ihrer Generation: ausgewandert aus den Dörfern auf der Suche nach Arbeit und nicht heimisch in der Stadt, das Leben karg und die Aussichten alles andere als rosig. Ein eindrückliches Portrait, das nachdenklich macht.