Kim de l’Horizon hat mit dem Blutbuch ja diesen Herbst sowohl den Deutschen Buchpreis als auch den Schweizer Buchpreis gewonnen. Und ich finde, der Roman hat seine Preise verdient. Er ist sprachlich unfassbar kreativ und stilsicher. Und es steckt so viel drin in diesem Buch, ein Feuerwerk von Ideen und literarischen Formen.
Das Blutbuch schildert die autofiktionale Selbstfindung einer genderfluiden Person Mitte zwanzig im 21. Jahrhundert. Es geht um Queerness, Sex und wie die Erzählfigur sich mit ihren besten Freund*innen zum Schreiben in ein Ferienhaus im Tessin zurückzieht. Es geht aber auch um die Auseinandersetzung mit den Müttern, Grossmüttern und Urgrossmüttern, mit der eigenen Kindheit und Herkunft. Es geht um ein sensibles Kind, das darunter leidet, dass die Mutter ihre Gefühle unterdrückt und dass über vieles nicht gesprochen wird. Es geht um die Geschichte der Mutter und ihrer Mutter und den vielen, vielen Frauen* vorher, es geht darum, wie Menschen in vorgesehene binäre Muster geklemmt werden. Und es geht um die titelgebende Blutbuche im Garten und wie die Erzählfigur die Geschichte der Blutbuchen recherchiert, um die eigene Geschichte verstehen zu können.
Dabei werden die Leser*innen oft direkt angesprochen, der Text wird reflektiert und auf einer Metaebene kommentiert. Die Erzählfigur thematisiert, wie sich der Text beim Schreiben verselbständigt, die Sprache ihre eigenen Wege geht, wie schwer sich das Material in Sprache fassen lässt.
Womit wir bei der Sprache wären: Ich habe selten eine so überschäumende und doch so kontrollierte Sprache gelesen. Kim de l’Horizon mischt berndeutschen Dialekt und dessen französische Einsprengsel in den standarddeutschen Text, ein anderer Teil ist Jugendsprache mit viel Englisch. Und jeder Stil wird durchgezogen. Manchmal treibt es Kim de l’Horizon etwas zu weit, noch eine Metapher, um etwas sprachlich fassen zu können, dann die Metapher wieder problematisieren, ausweiten, ausdehnen; noch einmal eine andere Erzählsituation, dann plötzlich Briefe auf Englisch… Kim de l’Horizon testet aus, was sprachlich alles möglich ist, und das ist zuweilen anstrengend. Die fünf Teile des Romans fallen dementsprechend auch etwas auseinander.
Bei all dem ist das Blutbuch aber nie nervig, nie belehrend, nie von sich eingenommen, sondern immer neugierig auf die Welt und experimentell.
Der Roman ist einerseits die Suche nach sich selbst und der eigenen Herkunft, andererseits die Suche nach der eigenen Sprache.
Meine Rezension kann den Roman bestimmt nicht adäquat einfangen. Ich schliesse mich deshalb den anderen Rezensionen an: Lest das Buch am besten selbst. Vielleicht wird die Lektüre nicht einfach fallen, ich war beim Lesen schnell übersättigt und habe das Buch eher in Portionen gelesen als in einem Stück heruntergeschlungen. Aber so hatte ich länger etwas von diesem hervorragenden Kunstwerk.