MARCO BALZANO ICH BLEIBE HIER
Gemäss eigenem Nachwort spricht Balzano in seinem Buch über Verantwortungslosigkeit, Machtmissbrauch und die Bedeutung des Wortes (p. 284).
Wie seine Botschaft ist auch der Plot dreischichtig:
Das zentrale Thema des VERLUSTES wird auf drei Ebenen geschildert, thematisiert in Form der masslosen Brutalität der Geschichte für die Einwohner der Gemeinde Graun im Vinschgau, jener deutschsprachigen Region, die nach dem 1. Weltkrieg Italien zugesprochen worden war.
Das Schicksal der Familie der Erzählerin, der angehenden Lehrerin Trina, wird beispielhaft für die Bewohner der Talschaft dargestellt: Manövriermasse zwischen Faschismus und Nationalsozialismus, tief geprägt von ihrer allmählichen Zerrissenheit, überrumpelt vom Bau des Staudammes und schliesslich Haus und Habe überschwemmt von den Fluten.
Hat die Erzählerin anfangs noch die Illusion mit ihren Freundinnen Barbara und Maja, Kinder zu unterrichten und auf das Leben vorzubereiten, muss sie sich bald der Diktatur der Schwarzhemden beugen und ihre unbewilligten Lektionen in Katakomben abhalten.
Als ersten Verlust erfährt sie die Verschleppung und Verbannung einer ihrer Freundinnen, deren geheimer Unterricht entdeckt wird.
In jedem der drei Kapitel: «Die Jahre», «Auf der Flucht», «Das Wasser» vergrössern sich die Entbehrungen.
Zuerst fällt die Familie auseinander. Diesen traurigen Umstand nimmt Balzano zum Vorwand, indem sich die Erzählerin in einer Art Rahmenhandlung an ihre verschollene Tochter wendet:
Sowohl der Buchanfang: Du weisst nichts über mich, und doch weisst du viel, weil du ja meine Tochter bist. (p. 13), wie auch der Initialsatz des 2. Kapitels: Ich werde dir nicht deine Abwesenheit schildern. (p. 89) vermitteln Trinas Schmerz. Erst die Fluten des letzten Kapitels vermögen die Sehnsucht nach Marica einigermassen zu ertränken.
Dann müssen Sprache und Kultur dem Diktat des Duces weichen. Wer nicht Italienisch spricht, kriegt keine Stelle.
Jetzt nehmen sie uns die Arbeit und die Sprache weg, und wenn sie uns erst zur Verzweiflung und in die Armut getrieben haben, jagen sie uns davon und bauen ihren verfluchten Staudamm. (p.64)
Der Krieg macht alles noch schlimmer. Die Einwohner haben die Wahl: Sie können bleiben und für Italien in den Krieg ziehen oder den Versprechen der «Grossen Option» folgen und nach Deutschland auswandern.
Und schliesslich fällt die Heimat den finanziellen Plänen Roms zum Opfer, mit dem desaströsen Resultat: Die Anlage liefert sehr wenig Energie. Es ist viel günstiger, den Strom bei den französischen Atomkraftwerken zu kaufen. Im Laufe weniger Jahre ist der [auf dem Titelbild des Buches abgebildete] Kirchturm zu einer Touristenattraktion geworden. (p. 278)
Weder die Kirche — seien es die salbungsvollen Worte des Bischofs, sei es das vorgegebene Commitment des Papstes während seiner Privataudienz —, noch die klägliche Opposition der Bauern: Die Arbeiter waren in der Überzahl und machten die vier mühelos nieder. Sie nahmen ihnen die Waffen ab, setzten ihnen den Fuss aufs Gesicht, und die Bauern lagen bewegungsunfähig unter den Stiefeln. Erdverschmiert und rot vor Scham. (p. 258), vermögen dem Bau des Stausees Einhalt zu bieten.
Es ist dieser fehlende Kampf gegen das Unheil, die mangelnde Solidarität unter den Bauern (stillschweigend lassen die Leute jeden Tag zu, dass das Grauen seinen Lauf nimmt (p. 115)), die das Tal entzweit, und letztlich den Invasoren erlaubt, ihr Unwesen in den fruchtbaren Boden des Tales zu rammen.
Trina und Erich können ihren Traum vom genügsamen Leben in einem schönen, einsamen Tal nicht leben.
Trotz aller Unbill müssen sie lernen, nach vorne zu schauen. Wie sagte doch die Mutter: Es wird schon einen Grund haben, wenn Gott uns die Augen vorne eingesetzt hat, sonst hätten wir die Augen an der Seite wie die Fische. (p.95)
Bleiben noch die Worte:
Indem man den Bewohnern die Muttersprache verbietet, vernichtet man sie wörtlich.
Trina, und das ist eine ganz ironische Botschaft, muss den Müttern und Gattinnen, der in den Krieg gezogenen Söhne und Gatten die zugestellten Briefe übersetzen.
Anfangs glaubt Trina noch, das grösste Wissen liege im Wort (p. 15).
Dann kamen die Italiener: Vom ersten Augenblick hiess es: Wir gegen sie. Die Sprache des einen gegen die des anderen…. (p. 32)
Selbst der Schmerz wird nicht mehr in Worte gefasst: Er ist vertraut und gleichzeitig verboten, etwas, worüber man nicht spricht. (p. 93)
Wenige in Graun konnten lesen, aber keiner verstand diese Sprache, die nur die Sprache des Hasses war.
Wörter konnten nichts ausrichten gegen die Mauern, die das Schweigen errichtet hatte. Sie sprachen nur von dem, was es nicht mehr gab. Also war es besser, wenn keine Spur davon blieb. (p. 203)
Das ganze Dilemma fasst Bolzano so zusammen: Die Sprachen waren zu Rassenmerkmalen geworden. Die Diktatoren hatten sie in Waffen und Kriegserklärungen verwandelt. (p. 131)
Es gab für Trinas Familie keinen Halt, weder in der Sprache, noch in der Religion, und schon gar nicht in der Heimat.
In der Entwicklung der Protagonisten setzt meine leise Kritik an: Erichs Entwicklung vom zufriedenen Bauern zum politischen Aktivisten ist gut aufgezeigt, er verzweifelt:
Er war nichts mehr von dem, was er sein wollte, und wenn du nichts mehr wiedererkennst, wirst du rasch lebensmüde. Dann genügt dir auch Gott nicht. (p. 275)
Anders Trina: Sie scheint emotionslos, melancholisch, zu ergeben, vor allem zu unentschlossen; einzig auf der Flucht zeigt sie ihre wahren Gefühle und setzt ihre Absichten endlich in die Tat um.
Dennoch ist sie, wahrscheinlich auch unter der Last, ihren Mann durch all die Entbehrungen zu führen, eine der einzigen in stiller Würde Überlebende.
Ihr Kampf um Freiheit und Identität ist sie das vereinende Element des Romans. Über ihre Mutter, ihr klagloses Vorbild sagt sie: Nie verlor sie sich, wie es die Alten tun, in Geschichten von früher, und auch wenn sie von Vater sprach, schien sie weniger bestimmte Momente heraufzubeschwören, als es ihm vielmehr übelzunehmen, dass er sich einfach davongeschlichen und sie alleingelassen hatte. Mutter war eine freie Frau, wirklich. 212/13
Ihre eigenen Kämpfe und Entbehrungen beschreibt sie mit:
Ich war zu beschäftigt, das Unvereinbare zu vereinbaren: Gott und die Verantwortungslosigkeit, Gott und die Gleichgültigkeit, Gott und das Elend der Menschen von Graun, die, wie der Mann mit dem Hut sagte, genauso waren wie alle anderen Leute auf der Welt. (p. 269)
Was bleibt, ist ein aus stillen Gewässern emporragender Kirchturm, ein Mahnfinger gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals.
Balzano ist es mit seinem Roman gelungen, seinen hohen Ansprüchen zu genügen: „[…] Ein Schriftsteller muss immer versuchen, das Schweigen zum Reden zu bringen, das ist die größte Herausforderung. Ein Schweigen, dem es gelingt, das auszudrücken, was man nicht sagen kann, das, wofür die Wörter nicht genügen“
PS: Die schweizerische Elektrowatt zahlte Montecatini 30 Mio Fr, damit diese den Staudamm bauen konnten.
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