Wenn ich Romane von Richard Russo lese, habe ich immer das Gefühl, dass es die Figuren und ihre Geschichten wirklich gibt oder geben könnte. Die Romanhandlung wirkt nicht konstruiert - obwohl sie es natürlich ist und obwohl das Thema des Storytellings in Diese alte Sehnsucht eigens erwähnt wird: Jack Griffin, der Protagonist, hat früher Drehbücher geschrieben und unterrichtet jetzt, wie man Drehbücher schreibt. Wenn er mit seiner Tochter spricht, denkt er, dass er einen solchen Filmdialog anders geschrieben hätte. Wenn er mit seiner Ehefrau streitet, wirft er ihr vor, dass ihre “Geschichte nicht ganz schlüssig” sei.
Mein Eindruck, der Roman sei nicht konstruiert, kommt vielmehr aus seiner besonders geschickten Konstruktion und Erzählweise. Die Handlung wird nicht durch unglaubwürdige Zufälle, sondern durch Griffins Überlegungen und Entscheidungen vorangetrieben - die durchaus widersprüchlich sind, schliesslich ist er ein Mensch. Und zwar ein etwas ungeschickter, unschlüssiger Mensch in einer Mid-Life-Crisis.
Griffin arbeitet sich am Verhältnis zu seinen Eltern ab, die er ablehnt und ein Leben lang möglichst gemieden hat. Trotzdem prägen sie sein Leben, vielleicht umso mehr. Zum Beispiel hat Griffin die Urne mit der Asche seines Vaters im Kofferraum, bis er endlich einen Ort findet, um sie zu verstreuen. Die Urne im Kofferraum ist symbolisch dafür, wie Griffin seine Eltern nicht loswird, obwohl er genau das immer schon wollte. Unbewusst und ungewollt übernimmt Griffin Verhaltensmuster von seinen Eltern, die sein Leben und seine Ehe beeinflussen. Die Ehe ist in der Krise, gleichzeitig heiratet die nächste Generation. Da gibt es viel, womit Griffin sich auseinandersetzen muss.
Russo schreibt zügig, unterhaltsam und mit einer Prise absurden Humors. Er lässt die Leser*innen mit allen Figuren mitleben, obwohl auf eine Figur fokussiert wird. Vielleicht können sich Menschen Mitte fünfzig am besten mit den Problemen identifizieren, die der Roman verhandelt. Spannend zu lesen ist der Roman aber für alle anderen auch.