“Komm, schwerer Schlaf”, heisst es im Lied von John Dowland. Komm, schwerer Schlaf, denkt auch Ellen. Sie ist Schlafforscherin, tagsüber behandelt sie in ihren Sprechstunden Leute, die an Schlafstörungen leiden. Nachts ist Ellen selbst schlaflos. Wenn sie um vier Uhr nachts wach liegt, denkt sie an das Cortisol, das gerade durch ihren Körper strömt (sie ist schliesslich Schlafforscherin), und sie denkt auch ganz viel sonst. Soweit die Rahmenhandlung.
Eigentlich ist es nur eine einzige Nacht, die im Roman behandelt wird. Ellens Gedanken tauchen scheinbar willkürlich aus der Erinnerung auf, schweifen von einem Thema zum nächsten - wie es einem halt so geht, wenn man nachts wach liegt. Die Gedanken und Erinnerungen sind aber wohlkomponiert und bilden immer mehr eine Geschichte. Es geht um Ellens Heimatdorf Grund, um die Menschen dort, zum Beispiel um ihren Vater Joachim, der einen Chor gegründet hat, als Ellens Mutter ins Koma gefallen ist. Der Chor singt immer dasselbe Lied von Dowland, das nicht nur mit dem Schlaf, sondern auch mit dem Tod zu tun hat.
Ein bisschen mysteriös sind die Geschehnisse in Grund. Zumindest gibt es viele Geheimnisse, viele Fragen und bei mehreren Figuren hat man beim Lesen das Gefühl, sie wüssten mehr, als sie zugeben. Einige Figuren verschwinden aus der Geschichte, ohne Antworten zu geben. Das hat mich persönlich am Ende des Romans ein bisschen unbefriedigt zurückgelassen. Ich weiss, ich weiss, offenes Ende und so, ich schätze es aus poetischer Sicht ja auch.
Ein poetischer Roman ist es sowieso. Die Motive sind bewusst gewählt und greifen ineinander. Dazwischen gibt es immer wieder zarte, treffende Beobachtungen. Zum Beispiel geht Ellen in der Nacht auf die Toilette. “Ich schliesse leise die Tür und laufe auf Zehenspitzen zurück ins Schlafzimmer. Meine Schritte sind leicht, das ist kein gutes Zeichen. Ich bin schon viel zu wach, fast hüpfe ich, schlecht, schlecht.” Das kommt wohl allen bekannt vor, die schon einmal nachts nicht mehr einschlafen konnten.
“Komm jetzt oder komm nie mehr”. Mir hat der Roman sehr gut gefallen. Er hält, was der Klappentext verspricht, und verhandelt Schlaf und Wachsein, Leben und Tod auf poetische Weise.