Doris blickt mit 96 Jahren auf ein sehr bewegtes Leben zurück: eine Kindheit in Schweden, der frühe Tod des Vaters und die damit verbundene Notwendigkeit bereits als junges Mädchen zum Hausmädchen zu werden, die Jahre in Paris als gefeiertes Mannequin, die Flucht vor dem Krieg nach Amerika, und dann der Weg über England zurück nach Schweden. Es ist ein Leben mit vielen Höhen und Tiefen, Erfolgen und Schicksalsschlägen, Freundschaften und der einen Liebe. Sie beginnt, das Leben aufzuschreiben, damit sie ihrer Großnichte Jenny, die mit ihrer Familie im fernen Kalifornien lebt, etwas zurücklassen kann. Denn Doris weiß, dass sie nicht mehr lange Zeit hat, ihre Geschichte zu erzählen. Als Leitfaden für ihre Geschichte dient ihr das rote Adressbuch, welches sie von ihrem Vater bekam und in das sie alle Menschen geschrieben hat, die in ihrem Leben eine bedeutende Rolle gespielt haben – nur sind die meisten davon bereits mit dem Wort „TOT“ gekennzeichnet.
Diese wunderbare Geschichte, meisterlich erzählt von Sofia Lundberg, hat mich sofort in ihren Bann gezogen. Sie hat mich berührt, gerade weil es so leise und ruhig erzählt ist und immer wieder daran erinnert, was im Leben wichtig ist. Es sind die Menschen, denen wir begegnen und die das Leben zu etwas besonderem machen und es ist die Liebe zu den Menschen in unserem Leben, die bedeutsam sind und eben nicht die Oberflächlichkeit, die Hetze durch den Alltag, die wir heute so oft erleben. In ihrem Roman mischt Lundberg unterschiedliche Erzählstränge. Zum einen das Hier und Jetzt in dem Doris mit dem ganz Alltäglichen kämpft und dann die Erinnerungen. Diese Kapitel sind mit den Namen der Personen überschrieben, die in dem jeweiligen Lebensabschnitt eine ganz besondere Rolle gespielt haben. Lundberg schafft es, die Personen so fein zu zeichnen, dass man sie förmlich vor sich sieht und das Gefühl hat, mitten in der Geschichte dabei zu sein. Man hofft und bangt, leidet mit, freut sich, lächelt. Oft, gerade am Schluss, hatte ich beim Lesen Tränen in den Augen.
Ein paar Zitate will ich herausstreichen, weil sie für mich ein Gefühl für den so wunderbaren Ton gibt, in dem sich Lundberg den Personen ihres Romans nähert. Gleich zu Anfang schriebt Doris an ihre Großnichte Jenny (S. 14): „So viele Namen, die einem im Laufe des Lebens begegnen (….). Die vielen Namen, die kommen und gehen. Die dir das Herz zerreißen und dich zu Tränen rühren. Die zu Geliebten oder zu Feinden werden. Manchmal blättere ich in meinem Adressbuch. Es ist die Landkarte meines Lebens. Ich werde dir ein bisschen davon erzählen“. Diese Worte leiten wunderbar in die Geschichte ein und geben die zentrale Bedeutung des Adressbuches für Doris wieder, enthält es doch all die Menschen, die ihr Leben berührt haben. Viele weitere Stellen im Buch haben mich verzaubert und hallen in mir nach, wie die Worte, die Doris Mutter ihr zum Abschied mit auf den Weg gibt: (S. 46) „Ich wünsche Dir von allem genug. (….) Genug Sonne, die Licht in deine Tage bringt, genug Regen, damit du die Sonne schätzen kannst, genug Glück, das deine Seele stärkt, genug Schmerz, damit du auch die kleinen Freuden des Lebens genießen kannst und genug Begegnungen, damit du die Abschiede besser verkraftest“ und am Ende dann noch die kurze Nachricht, die Jenny nach Doris Tod erhält (S. 341): „Hab keine Angst vor dem Leben. Erleb so viel es geht. Greif zu. Lache. (….) Nutze die Chancen, wenn sie sich bieten, und mach etwas Gutes daraus.“
„Das rote Adressbuch“ ist mehr als die Lebensgeschichte einer starken und mutigen Frau. Es ermuntert die Leserinnen und Leser aus meiner Sicht, einen kritischen (und daher auch mutigen) Blick auf das eigene Leben zu werfen und sich zu fragen, wie und wer man sein möchte. Nicht verwunderlich, dass das Buch mit der so simpel klingenden und doch so gewichtigen Frage endet: „Hast Du genug geliebt?“.