Wenn Künstler das Genre wechseln, kann das zu etwas Großem werden oder eben auch nicht. Bei Edgar Selge ist der Genrewechsel mehr als geglückt. In seinem Debüt als Schriftsteller erweist er sich als meisterhafter Erzähler. Autobiographisch gefärbt erzählt Selge von einer Kindheit, die geprägt ist von den Nachwirkungen des Krieges, von Musik und als Kontrastpunkt der väterlichen Gewalt. Gerade die Beschreibungen der väterlichen Gewalt, die angedeutet auch sexuelle Übergriffe einbezieht, haben mich tief bewegt, denn trotz der Schläge liebt der Erzähler seinen Vater und hadert doch genau damit: „Meine Liebe zu meinem Vater.(…..) Ich will nicht zugeben, von jemandem geschlagen zu werden, den ich liebe. Und noch weniger will ich zugeben, dass seine Schläge meine Liebe nicht ausgelöscht haben. Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt.“.
Selge erzählt in diesem Buch nicht aus der rückblickenden Sicht, sondern schlüpft in die Gestalt des 12-jährigen Edgar. Er durchlebt so noch einmal seine eigene Geschichte und wohl auch die Geschichte vieler Kinder der Nachkriegszeit. Denn auch wenn die NS-Zeit vorüber ist, so wirft sie immer noch Schatten auf die Gegenwart. Das Mitläufertum der Eltern, die Erlebnisse des Vaters im Krieg als Wehrmachtssoldat, der Tod des ältesten Bruders, der beim Spielen mit einer gefundenen Granate umkommt…. All das hallt nach, auch wenn man das Buch schon längst aus den Händen gelegt hat. Man spürt auch bei den Eltern die Zerrissenheit. Auf der einen Seite haben sie den Krieg verloren, der Nationalstolz ist nur noch eine wage Erinnerung und doch verfügten sie „über eine trotzige Kraft der Lebensbejahung. Irgendwie ist noch viel Energie da. Alles muss jetzt nachgeholt werden. Komprimiert. Fiebrig und intensiv“.
Das Buch ist keine Abrechnung mit den Eltern und ihrer Generation, sondern für mich der Versuch, in dem Rückblick die eigene Geschichte, das eigene Handeln und Tun besser zu verstehen und einzuordnen. Julia Schröder schreibt in ihrem Text für den Deutschlandfunk „Wie jede Vergangenheit reicht auch diese Kindheit bis in die Gegenwart“ und genau so habe ich es beim Lesen empfunden. Die eigene Vergangenheit, die der Eltern und Großeltern prägt und macht eine Person sowie eine Gesellschaft zu dem, was sie ist. Man muss bewusst zurückblicken, sich der Vergangenheit stellen, denn nur dann kann man Weichen bewusster neu stellen und eigene Wege gehen.
Beeindruckend fand ich die Art des Erzählens, die Selge gewählt hat. Eine sehr reduzierte, geradlinige Sprache, die trotzdem oder gerade deswegen Bilder beim Lesen entstehen lässt. Ein einfacher Blick durch ein Schlüsselloch wird so fast poetisch „Ich schaue durchs Schlüsselloch. (…) Ich wundere mich über das Bild vor meinem Auge. Der Rahmen hat die Form einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Figur, im Zentrum mein Vater, der eine ziellose Runde auf dem Teppich dreht“. Die Musik erhebt sich fast aus den Seiten des Buches, wenn Selge schreibt „Tief unter mir mäandern die Harmoniefolgen am Klavier (…)“.
Und für mich ist das Buch vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Lage und des schrecklichen Krieges in der Ukraine erschreckend aktuell. Denn wenn jede Vergangenheit bis in die Gegenwart reicht, so ist gewiss, dass die schrecklichen Gräueltaten noch in Generationen nachwirken werden. Selge schreibt „wir denken immer, die Zeiten ändern sich. Aber das stimmt nur halb. Die Menschen bleiben dieselben“. Ein Satz, der in mir nachhallt und mich tief in mir hoffen lässt, dass in der aktuellen Zeit die Menschen durch die unfassbare Solidarität und Gemeinschaft, die gerade erlebbar ist, die Zeiten doch ändern können.
Für mich war das Buch eine unerwartete Entdeckung. Ein literarisches Debüt, das mich bewegt und überrascht hat und mich sehr nachdenklich stimmte. Ich bewundere den Mut der öffentlichen Person Edgar Selge viele Menschen in einem so persönlichen autobiographischen Buch an einer Facette der 60er Jahre teilhaben zu lassen, ohne anzuklagen oder zu verurteilen, sondern nur zu erzählen.