Meine Meinung zum 2. Teil:
Der zweite Teil gefiel mir genauso gut wie der erste. Nur hätte ich es vorgezogen, wenn er im selben Tempo weitergegangen wäre, wie der erste.
Was Tortuelente zur Zweideutigkeit erwähnt hat, berührt auch mich. Diese Ambivalenz zwischen Hilfesuchenden und Helfenden ist sehr gut eingefangen. Es wird spürbar, wie fließend die Grenze zwischen den Rollen verläuft, wie schnell man sich auf der anderen Seite wiederfindet. Sprachlich gelingt es Leon Engler meiner Meinung nach sehr eindrucksvoll, die Zerbrechlichkeit dessen zu zeigen, was wir „Normalität“ nennen und wie rasch ein Mensch als „ver-rückt“ gilt, wenn er sich dieser Ordnung entzieht.
Besonders nachhallend sind für mich zwei Aussagen, eine der leitenden Psychologin, die andere vom Protagonisten selbst (S. 68 & S. 96):
„Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir passen den Patienten an unsere Theorie an. Oder wir passen unsere Theorie an den Patienten an.“
„Wir passen die Menschen an die Welt da draußen an – oder behalten sie hier.“
Ich wünsche mir sehr, dass Letzteres in der Realität Vorrang hat (Theorie wird an Patient angepasst). Denn wer Menschen an eine Theorie anpasst, richtet, so meine Überzeugung, eher Schaden an, als dass er hilft. Ich stimme der Aussage auf Seite 74 zu: „Worte sind Werkzeuge“ und wie bei jedem Werkzeug liegt es an der Hand, die es führt, ob damit geheilt oder verletzt wird.
Zugleich berührt mich die Vorstellung, dass Menschen überhaupt verändert werden müssen, damit das große Räderwerk der Gesellschaft weiterläuft. Ist diese Gesellschaft wirklich so gut, wie wir es uns gern einreden?
Vielleicht liegt in der Aussage des Protagonisten über den Oberarzt ein tieferer Sinn (S. 81). Vielleicht steht diese Figur sinnbildlich für unsere Zeit, vielleicht sogar für uns alle:
„Ich glaube, er mag die Menschen, doch verzweifelt an der Menschheit.“
Diese resignative Haltung findet sich auch an anderer Stelle (S. 86):
„Ja, es bringt ja nichts, wenn ich etwas will, was die Patienten nicht wollen. Ist ja ihr Leben. Jeder hat das Recht, sein Problem zu behalten. (…) Wir versuchen hier, schreckliches Elend in ganz normales Unglück zu verwandeln.“
Eine bittere, aber ehrliche Einsicht. Man kann nur helfen, wenn jemand bereit ist, Hilfe anzunehmen.
Auch den Gedanken von Tortuelente zur Wohngemeinschaft finde ich bemerkenswert. Ich würde sogar sagen: Das Thema Zugehörigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben des Protagonisten. Nirgends scheint er wirklich anzukommen. Immer wieder pendelt er zwischen Gruppen, zwischen Räumen, zwischen Identitäten. Als suche er seinen Ort in einer Welt, die ihn ständig weiterschiebt. Diese Rastlosigkeit zeigt sich auch im ständigen Wechsel der Abteilungen: Kaum beginnt er, sich ein wenig zu orientieren, wird er erneut versetzt. Es bleibt kein Raum für Vertrautheit.
Wie auch Veeni schätze ich die sachlich fundierten Erklärungen im Text. Sie fügen sich gut ins Gesamtbild ein und eröffnen Einblicke in komplexe Krankheitsbilder. Zwei Zitate haben mich in diesem Zusammenhang besonders innehalten lassen (S. 77 und S. 126):
„Aber wenn ich eines in meinem Studium gelernt habe, dann, dass die Seele eine vage Idee ist. Sie entwischt dem menschlichen Wunsch nach Eindeutigkeit immerzu.“
und:
„Der Schmerz ist keine Krankheit, sondern ein blinkendes Warnlicht.“
Ich kann schwer benennen, warum gerade diese beiden Sätze mich so tief berührt haben. Aber sie ließen mich für einen Moment still werden. Besonders das erste Zitat empfinde ich als außerordentlich schön. Es beschreibt etwas so Flüchtiges, das doch jeder kennt: die Ahnung davon, dass in uns etwas lebt, das sich nicht greifen lässt.