Zum vorletzten Abschnitt habe ich mir einige Notizen gemacht:
Spaziergang
Hans Castorp gibt sich auf seinem Spaziergang wieder ausgiebigen Überlegungen über die Zeit hin. Zeit und Raum. Diesen Gedankengängen bin ich gerne gefolgt. Auch die Parallele zur Musik fand ich interessant. Zeit - im Zusammenhang mit dem Leben und dem Tod. Die Ausführung darüber, wie relativ uns Zeit vorkommt.
Anscheinend empfinden in einer Höhle eingeschlossene Menschen die Dauer des Eingesperrtseins als weniger lang, als sie in Wirklichkeit war.
Herr Peeperkorn
Dieses Kapitel fand ich sehr gut zu lesen, unterhaltsam. Wieder ein neuer Charakter (kein angenehmer Zeitgenosse, finde ich) - und eine Wende im Beziehungsgeflecht. Peeperkorn, der in Begleitung von Madame Chauchat anreist. Herr Behrens nennt Madame Chauchat ein Kätzchen - ihr Name erinnert daran und ebenfalls ihr Gang. Eine Frau als Kätzchen zu bezeichnen würde vielleicht heutzutage in gewisser Trivialliteratur akzeptiert, wäre aber undenkbar in einem Werk eines Autors vom Kaliber von Thomas Mann. In diesem Kapitel hat es einige Bezeichnungen und Wendungen, bei denen mir schier der Atem stockte - obwohl sie nicht brutal waren, aber in hohem Grad rassistisch. Wie Herr Peeperkorn mit der Kellnerin umspringt sagt viel über ihn aus. Er nennt sie “mein Kind”. Mal Du, mal Sie, seine Äusserungen sind ausgesprochen übergriffig, indem er ihr beispielsweise Kosenamen gibt. Da er vermögend ist, kann er sich offenbar leisten, was immer er will - auch im Umgang mit Menschen. Er hat in diesem Kapitel seinen “Einstand”, man lernt ihn kennen.
21
Mynheer Peeperkorn steht im Mittelpunkt der Gesellschaft. Er lädt ein - es gibt Gelage. Essen und alkoholische Getränke in dekadentem Überfluss. Wie er spricht - ohne jeweils die Sätze abzuschliessen, hat System. Er macht sich zwar interessant, wirkt aber in einer gewissen Weile etwas unwürdig. Allerdings zollen ihm alle Respekt - er schart die Leute um sich und sie benehmen sich fast unterwürfig. Er erscheint “königlich”.
Meine Stirnarabesken bewegen sich beim Lesen manchmal auch fragend nach oben oder auch am inneren Ende zu einander hin ;-)
In der Gesellschaft verliert mit zunehmendem Fortschreiten der Zeit und dem Alkoholkonsum Hemmungen.
Die Gesellschaft überliess sich einem seligen Nichtstun, indem sie ein zusammenhangloses Geschwätz tauschte, dessen Elemente bei jedem einzelnen aus erhöhtem Gefühle stammten und in irgendeinem Urzustande das Schönste versprochenhatten, aus denen aber auf dem Wege zur Mitteilung ein fragmentarisch-lippenlahmer, teils indiskreter, teils unverständlicher Gallimathias wurde, geeignet, die zornige Scham jedes nüchtern Hinzukommenden zu erregen, doch von den Beteiligten ohne Beschwer zu ertragen, da alle sich in dem gleichen verantwortungslosen Zustand wiegten.
Mynheer Peeperkorn (im Weiteren)
Das ist ein langes Kapitel. Es macht aber meistens Freude zu lesen. Die Unterhaltungen sind oft interessant. Charakteristisch für dieses Kapitel sind Wechsel in den Beziehungen, wie auch explizit “Wunderlich hin und herlaufende Beziehungen!” erwähnt werden. Die Entwicklung von Hans Castorp ebenfalls. Er scheint erwachsen zu werden. Es sieht aus, als ob die Sache mit Madame Chauchat ihn reifer gemacht hat. Er ist ihr nicht mehr “verfallen”, sondern immer noch gewissermassen zugeneigt. In der Unterhaltung mit ihr dominiert er nun klar. Er gibt seine Liebe zu ihr zu, ohne aber sich zu erniedrigen oder zu flehen. Auch seine Besuche bei Peeperkorn zeigen eine gewisse Überlegenheit. Er hat gelernt - aus den Disputen zwischen Settembrini und Naphta, aus den Disputen mit diesen beiden einerseits gegensätzlichen und in ihrer “Sturheit” doch ähnlichen Charaktere.
Es ist meistens ein Vergnügen, diese aussergewöhnliche Sprache zu lesen. Es gab Abschnitte, die haben mir mehr ihretwegen gefallen, als aufgrund des Inhalts. Einige Seiten habe ich allerdings gelesen, ohne im Anschluss zu wissen, was ich gelesen habe.
Fragen stellen sich mir zur Interpunktion, zur Verwendung des Semikolons im Speziellen - waren die Regeln früher anders oder ist es eine Freiheit des Künstlers oder irre ich mich?
Ich werde nicht wilde Abreise halten, wie mein armer Vetter; der; wie du vorhersagtest, gestorben ist, als er versuchte, im Flachlande Dienst zu tun, und der es wohl selber wusste, dass er sterben werde, aber lieber sterben wollte, als hier weiter Kurdienst machen. Gut, dafür war er Soldat. Aber ich bin keiner; ich bin Zivilist, für mich wäre es Fahnenflucht, zu tun wie er; und partout, trotz Radamanths Verbot, im Flachlande so ganz direkt dem Nutzen und Fortschritt dienen zu wollen. Das wäre die grösste Unbdankbarkeit und Untreue gegen die Krankheit und das Genie und gegen meine Liebe zu dir, wovon ich alte Narben und neue Wunden trage, und gegen deine Arme, die ich kenne, - wenn ich auch zugebe, dass es nur im Träume war, in einem genialen Traum, dass ich sie kennen lernte, so dass dir selbstverständlich keinerlei Konsequenen und Verpflichtungen und Einschränkungen deiner Freiheit daraus erwachsen …"
Mynheer Peeperkorn (Schluss)
Mich hat in diesem Kapitel vor allem beeindruck, wie Hans Castorp wirkt. In der Konfrontation von Herrn Peeperkorn zu Hansens Verhältnis zu Madame Chauchat gibt sich Hans Castorp keine Blösse - weder leugnet er eine Beziehung, noch legt er eine Schwäche dar. Wohl gibt er offen zu, dass er auf Madame Chauchat gewartet hat. Dennoch wirkt er hier so wie er es wünscht, männlich und überlegen. Die beiden kommen sogar ihrerseits zum “Du”.
Den Suizid von Peeperkorn fand ich aus meiner Sicht etwas konstruiert, als ob Thomas Mann hier einen Kniff bemüht hat, um mit dieser Person und dieser Episode zu einem Schluss zu kommen.