Grundsätzlich ist das Buch “Anatol abholen” von Lea Gottheil ein gelungenes Buch, welches auch wichtige Themen wie ADHS und psychische Gesundheit thematisiert und diese im Kontext des Bildungssystems beleuchtet. Der Titel ist treffend, denn zum einen muss Jil ihren Sohn oft vom Unterricht abholen, da die Lehrpersonen mit Anatol überfordert sind und zum anderen kann es als Aufforderung verstanden werden, dass man Schülerinnen und Schüler da “abholt”, wo sie in ihrer Entwicklung gerade stehen - und die ist nun mal ganz individuell. So beschreibt Lea Gottheil in ihrer Geschichte, wie das Schulsystem auf Homogenität ausgerichtet ist und für laute, schnell ablenkbare, respektive mit kurzer Konzentrationsspanne oder gar “explosive” Persönlichkeiten zum Problem wird und rasch an die Grenzen kommt.
Über weite Strecken passieren ähnliche Ereignisse, die in kurzen, knappen sowie leicht verständlichen Sätzen beschrieben werden. Bei jedem neuen Versuch oder “Experiment” Anatol zu unterrichten und einzuschulen ahnt man bereits, dass es wieder scheitern wird und dies macht auch in der Freizeit keinen Halt, denn beispielsweise gelingt es Anatol auch bei einem Kindergeburtstag nicht, den Tag ohne Auffälligkeiten zu geniessen und die Party endet im Drama.
Obwohl wichtige Themen wie ADHS und psychische Gesundheit (Burnout-Gefahr, fehlende Unterstützung oder Suizidgedanken) thematisiert werden, so werden sie gesamthaft trotzdem zu wenig beleuchtet. Leider finde ich, dass das Ende der Geschichte nicht gelungen ist. Nachdem so viele Versuche unternommen wurden und alles immer gescheitert ist, so wendet sich plötzlich alles im Eiltempo zum Guten und das innert weniger Textseiten. Es erscheint fast schon zu banal oder zu romantisiert, nachdem es über weite Strecken tatsächlich keine Besserung gegeben hatte. Die Geschichte hätte durchaus im Drama enden können, um darzustellen, wie wichtig es ist, auf Individualität oder auch sein Gegenüber zu achten und es als Chance zu sehen - auch wenn es halt zum Teil die eine oder andere Extrarunde benötigt. Zum gleichen Ziel hätte man auch mit einem etwas ausgeprägteren, kontinuierlichem Verbesserungsprozess gelangen können. Stattdessen fragt man sich, was dieser nur über wenige Seiten beschriebene Twist bewirken soll, der fast schon unrealistisch erscheint (im Gegensatz zu den restlichen drei Vierteln des Buches, die sehr authentisch und realitätsnah wirken).