Guten Morgen, gerne teile ich meine Eindrücke und Gedanken zur bereits letzten Lesewoche und bin sehr gespannt auf Eure Beiträge!
Dieser letzte Leseabschnitt beginnt damit, dass sich Ruth von Alois trennt mit der Begründung “Sie habe das Gefühl, dass er sie eigentlich gern hierbehalten würde, aber nicht um ihretwillen, sondern um über seine Einsamkeit hinwegzutäuschen” (S. 139). Diese Empfindung von Ruth finde ich sehr plausibel, denn auch ich habe in den Kapiteln zuvor einen ähnlichen Eindruck von Alois Gefühlen oder zumindest von seinem Verhalten gegenüber Ruth erhalten. Nach der Trennung legt sich erneut eine bleierne Einsamkeit (und Antriebslosigkeit) über den Protagonisten Alois, vergleichbar mit dem Bild des Nebels: “Nachdem Ruth gegangen war, begrub der Nebel alles, was nicht in unmittelbarer Nähe lag. Er verschluckte die Berge und das Dorf und an manchen Tagen sogar den Waldrand, wie damals, als die Eltern gegangen waren.” (S. 155).
Umso mehr bilden die Erzählungen über die in der Vergangenheit liegende Freundschaft von Alois und Camenzind und deren Entstehung eine Kontrastfolie zum Zustand von Alois nach der Trennung von Ruth. Diese Freundschaft scheint von sehr viel Vertrautheit und Geborgenheit zu zeugen - da scheinen sich zwei gefunden zu haben. Spätestens beim Satz unmittelbar nach der Verletzung von Alois am Finger - “Alois wollte sich in diese Hand legen” (S. 175) - war ich mir nicht mehr so sicher, ob diese Beziehung für Alois eine rein platonische blieb oder ob er im Verlaufe der Zeit auch romantische Gefühle für Camenzind entwickelt hat. Auch die Sehnsucht, die Alois am Ende des Romans auf seiner Wanderung nach der Alp und nach Camenzind empfindet und antreibt, könnte (muss aber nicht) diese These unterstreichen. Was meint Ihr?
Die Geschichte von Elisabeth, ihr Wiederaufblühen in vielerlei Hinsicht habe ich sehr gerne gelesen. Sehr berührend fand ich, dass sich die Wege von ihr und Marlies wiedergekreuzt (und fortan nicht mehr getrennt) haben. “Irgendwo dort, zwischen den Gipfeln, hatte es in unwahrscheinlicher Ferne einen Sommer gegeben. Dann waren ihre Leben weit auseinandergelaufen. Und sahen seit Jahren jeden Tag dieselben Berge” (S. 148). Obwohl Marlies und Elisabeth in diesen vielen Jahren keinen Kontakt hatten, waren sie doch weniger weit voneinander entfernt als gedacht. Welche Geschichte von Elisabeth hätten wir wohl gelesen, wenn Jakob Marlies damals in diesem Sommer nicht zuvorgekommen wäre (S. 149)…?
Dass die Du-Protagonistin nach dem schmerzlichen Verlust ihres Grossvaters etwas von ihm weiterführen kann und so eine Art Beziehung zu ihm und den mit ihm verbundenen Erinnerungen aufrechterhalten kann, hat mich sehr berührt.
Am Schluss empfand ich alle drei Erzählperspektiven als rund und in sich stimmig. Ich habe alle drei Protagonist:innen ins Herz geschlossen und sie, ihre Schicksalsschläge, ihren Umgang damit und die Verflüssigungen, Verhärtungen und Verschiebungen in ihnen sehr gerne mitverfolgt.
Herzlichen Dank, dass ich in dieser tollen Leserunde mit dabei sein durfte und vielen Dank für den anregenden und sehr interessanten Austausch!