COLUMN MCCANN APEIROGON
Dieses 595 Seiten dicke Buch ist eine absolute Wucht, und ich gehe mit Elke Heidenreich einig, die es als das Buch des Jahre 2020 bezeichnet.
Da ist der Inhalt:
Der Jude Rami Elhanan und der Palästinenser Bassam Aramin erleiden die Folgen der israelischen Besatzung.
Beide verlieren ihre Töchter in den Krieg- und Terrorwirren. Aber sie geben nicht auf und kämpfen. Sie erkennen, dass sie dies mit der Sprache — Sprache sei eine Waffe, die mächtigste überhaupt, und er wolle sie einsetzen, aber das müsse mit Bedacht geschehen—tun müssen, denn, …der grösste Dschihad, sei die Fähigkeit zu reden. Und das werde er jetzt tun.
Das Bestechende am Inhalt ist die Solidarität zwischen den nominellen Feinden. Sie erkennen, dass nur Gemeinschaft das Schicksal heilen kann: Mich mit anderen zusammenzutun hat mir das Leben gerettet. Wir haben keine Vorstellung, welches Unheil wir anrichten, weil wir einander nicht zuhören. Das Leid ist grenzenlos. Ja, wir haben unsere Mauer errichtet, doch die wahren Mauern befinden sich in unseren Köpfen, und jeden Tag füge ich einer anderen einen Riss zu.
Und: Rumi, der Dichter und Sufi, hat etwas gesagt, das ich nie vergessen werde: Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort: dort treffen wir uns. Wir hatten recht und wir hatten unrecht, und wir begegneten uns jenseits davon. Wir begriffen, dass wir einander aus denselben Gründen töten wollten: Sicherheit und Frieden. Stellen Sie sich das vor, welche Ironie, das ist doch verrückt.
Als Mitglieder des Parents Circle, alles Eltern, die ein oder mehrere Kinder durch Schüsse oder Bombenattentate verloren haben, gründen sie die Combattants for Peace. Sie ziehen durchs Land und erzählen. Bald wird ihre Mission international.
An sich erzählt es sich leicht. Die Erinnerungen rollen wie Lawinen herab. Beim Blick zurück ist nicht nur egal, wo man anfängt, sondern auch, wo man aufhört. Wenn man es schafft, wohlwollend zu bleiben, tut man sich einen Gefallen. Hier und da ein Umweg um die Erinnerung, was soll’s. Man weiss ja, wie es wirklich war.
…Ich habe diese Geschichte schon so oft erzählt, aber es gibt immer etwas Neues zu sagen. Erinnerungen stürzen über dich herein, überall. Jemand schlägt ein Buch auf. Eine Tür geht zu, irgendwo piepst etwas, ein Fenster, das geöffnet wird. Es kann alles sein. Ein Schmetterling.
Diese Erkenntnis und die dadurch ausgelösten Friedensaktivitäten spiegeln die Einsicht des Dichters Borges: Gestern war ich klug und wollte die Welt verändern. Heute bin ich weise und ändere mich selbst.
Und immer wieder kommt das Leid in Form von Erinnerungen. Die beiden Väter können ihre Töchter nicht vergessen: Einmal, als er Fieber hatte, träumte Rami, er würde ein Mikrophon im Boden versenken, damit er die Antworten auf all die Fragen hören könnte, die er Smadar noch stellen wollte.
Der Leser erfährt auch viel über Ornithologie, ziehen doch die meisten Vogelschwärme über die unendliche Tragik des Palästinakonfliktes hinweg.
Da ist aber auch die Form:
Teilt man den Tod durch das Leben, erhält man einen Kreis. Und da kommt der Titel ins Spiel, eine schlicht geniale Findung, die Form und Inhalt verbindet.
Apeirogon: eine Figur mit einer zählbar unendlichen Menge Seiten…
…Als Ganzes nähert sich ein Apeirogon der Form eines Kreises an, ein kleines Stück erscheint hingegen, in vergrösserter Ansicht, als gerade Linie. Man kann innerhalb des Ganzen überall hingelangen. Jeder Punkt ist erreichbar. Alles ist möglich, sogar das unscheinbar Mögliche.
Gleichwohl ist auf jedem Weg zu einem beliebigen Punkt immer die Form in ihrer Gesamtheit beteiligt, auch die Bereiche, von denen wir noch keine Vorstellung haben
Die kaleidoskopische Struktur des Buches ist angelehnt an «1001 Nacht». In kürzesten (gerade mal ein Satz) chronologisch von 1 bis 500 nummerierten Episoden bis zu langen Vorstellungen der beiden Protagonisten (Rami, 16 S), Bassam (20 S), zwischen deren Biographien das Kapitel mit der Zahl 1001 symptomatisch für den Roman eine Kurzzusammenfassung gibt:
…..um Bassams und Ramis Geschichten zu lauschen und darin eine andere Geschichte, ein Lied der Lieder zu finden, in dem sie sich selbst entdecken— du und ich, in der steingefliesten Kapelle, in der wir stundenlang gespannt, hoffnungslos, zuversichtlich, verstört, zynisch, betroffen, schweigend zuhören, während die Erinnerungen über uns hereinstürzen, unsere Synapsen tanzen und wir uns in der vordringenden Dunkelheit all die Geschichten ins Gedächtnis rufen, die noch erzählt werden müssen.
Über «1001 Nacht» sagte Borges, das Buch sei so unerschöpflich und gewaltig, dass man es gar nicht zu lesen brauche; es habe sich tief ins unbewusste Gedächtnis der Menschheit eingegraben.
…und wir finden Märchen unglaubwürdig.
Lassen Sie nicht zu, dass mir der Ölzweig aus der Hand fällt.