Anna_Apfelbaum
Ich bin mir bewusst, dass dies mittlerweile ziemlich absurd ist, aber ich finde, ich muss das jetzt trotzdem noch nachholen, schliesslich durfte ich dieses Buch gratis lesen, wofür ich sehr dankbar bin, und daher ist es nur angemessen, wenn ich auch noch meine Gedanken teile, wie versprochen, auch wenn diese Leserunde nun schon seit mehr als einem halben Jahr beendet ist. Ich habe nun endlich auch noch den Rest des Buches gelesen und kann daher auch noch zum letzten Teil meine Gedanken beitragen.
Über das “dazwischen” habe ich mir vor dieser Frage so explizit noch keine Gedanken gemacht, wobei es doch ein entscheidendes Thema ist. Mir ist vor allem das Anderssein aufgefallen, dass Honora schon seit ihrer Kindheit erfahren hat. Dies ist tatsächlich ein Teil des “dazwischen”, des Dazugehörens oder eben nicht, des Verlusts der Heimat und der gleichzeitigen Prägung durch sie. Das Buch ist gleichzeitig auch vor allem die Suche nach einem Ort, wo Honora sich selbst sein kann und sich nicht verstellen oder anpassen muss. Und dieser Ort ist womöglich, so das Fazit des Buches, kein physisch gebundener Ort (ausser einfach “die Natur”) sondern viel mehr einfach die Nähe zu einem Menschen, der ist wie sie, wie Joseph, der das “dazwischen” mit ihr teilt.
Wie sehr die Parallelen zwischen Irland und Nordamerika berechtigt sind, kann ich nicht beurteilen, da es schliesslich dennoch individuelle Erfahrungen sind und ich ehrlich gesagt auch zu wenig über die Spezifika der beiden Geschichten weiss (insbesondere gerade auch Irlands). Auf jeden Fall ist es ein weiteres Beispiel dafür, dass es auch innerhalb Europas Formen von Kolonialismus gab. Auch hier sind mir Parallelen zwischen der im Buch geschilderten Hungersnot und dem Holodomor in der Ukraine aufgefallen. Auf jeden Fall kann ich mir durchaus vorstellen, dass eine Frau wie Honora, aufgrund der Dinge, die ihr Volk in Irland erlebt hat, eine grössere Sensibilität entwickelt und Parallelen erkennt zudem was Joseph und seinem Volk in Nordamerika widerfahren ist oder dass es ungerecht ist, dass sie auf einem Grundstück leben, das “Indianern” weggenommen wurde. Gleichzeitig ist das aber auch einer dieser Punkte, bei dem wir nie wissen, inwiefern wir vielleicht auch heutige Sichtweisen auf Menschen von damals projizieren.
Der vielleicht symbolischste teil der Prophezeihung Alices, der sich bewahrheitet, ist. “Was für den einen Fluch ist, kann für andere Segen sein”. Ihr ganzes Leben hat Honora darunter gelitten, dass sie von diesem angeblichen Vogelfluch (ein Vogel im Haus, oder genauer gesagt ein Rotkehlchen, ist ein Fluch in Honoras Kultur) betroffen ist. Und nun sagt plötzlich Joseph, in seiner Kultur gelte das als Segen, als etwas, was Glück bringt. Mit mehr Deutlichkeit kann man nicht sagen, dass Honora ihren Platz gefunden hat. Der zweite Teil der Prophezeihung war “Nimm dich in Acht vor dem, der dich nicht freigeben will. […] Such nach demjenigen, der den Segen erkennt.” Was genau darauf anspielt, dass Honora ihren Platz dann gefunden hat, wenn sie jemanden findet, der sie nimmt wie sie ist. Aber auch das Ungemach, was bereits da ist und was über sie kommt, was Alice ebenfalls vorhergesehen hat, übersteht Honora dank ihrer Stärke, die Alice ebenfalls deutlich wertschätzt, und womöglich nicht zuletzt auch durch Alices Zauber.
Bleiben also noch die beiden Männer, Prosper und Joseph. Fangen wir mit Prosper an. Das Verhältnis von Prosper und Honora ist geprägt von einer gewissen Abhängigkeit, nicht so repressiv wie mit Ignatius, der hier wirklich alles Böse verkörpert, aber eine Abhängigkeit ist es dennoch, weil Prosper Honora aus der Prostitution befreit hat. Beide bemühen sich eigentlich sehr, auch Prosper hat eigentlich keine schlechten Absichten. Aber er hat sehr bestimmte Vorstellungen über das gemeinsame Leben der beiden (sesshaft werden, Familie gründen…), die nicht unbedingt Honoras Bedürfnissen entsprechen (ich glaube, sie hätte gerne Kinder gehabt, ist aber unfruchtbar, und vor allem aber ist das Leben mit Prosper doch zu einengend für sie). Zwischenzeitlich versucht sie ja auch bis zu einem gewissen Grad, diesen Vorstellungen zu entsprechen. Schliesslich hat sie zu diesem Zeitpunkt bereits Strategien entwickelt, um zu überleben, in dem sie vorgibt, jemanden zu sein, der sie nicht ist. Dies gelingt ihr aber nicht, sie flieht letztlich doch wieder aus diesem Leben. Dazu entsteht der Eindruck, dass sie ihn nicht wirklich lieben konnte, obwohl sie ihn durchaus geschätzt hat (deswegen wollte sie ihn ja auch vor Ignatius retten und nicht einfach flüchten und ihn opfern), dafür was er für sie getan hat. Aber letztlich kommt es einem vor, wie eine bessere Art der Prostitution, was auch von der Schilderung der Intimität der beiden gestützt wird, in der Honora selbst diese Parallelen aufdeckt. Darüber hinaus wird einfach deutlich, dass Prosper Honora nicht versteht, so sehr er es versucht, weil er als gebürtiger Amerikaner nicht die gleichen Erfahrungen gemacht hat wie sie. Dies zeigt sich insbesondere bezüglich des “Indianers”, aber auch in anderen Situationen.
Im Kontrast dazu haben wir Joseph, bei dem Honora so sein kann wie sie ist. Auch wenn sie aus zwei verschiedenen Kulturen stammen, verstehen sich die beiden erstaunlich gut, selbst wenn sie beide manchmal nicht die richtigen Worte finden, weil Englisch nicht ihre Muttersprache ist. Was ich nicht erwartet hatte, ist wie sehr Josephs Geschichte letztlich ein Spiegelbild von Honoras Geschichte ist, was natürlich mehr symbolisch als realistisch ist, aber dieses Buch ist ja voll von Symbolen, Parallelen, Gegensätzen und Magie. Schon viel vorher wird aber deutlich, wie sehr Honora in Josephs Gegenwart sich selbst sein kann, Sachen sagen, kann sie sie sonst niemandem gesagt hat. Kurz gesagt, sie fühlt sich verstanden, so wie sie ist. Und das selbst trotz der Sprachschwierigkeiten. Generell scheinen sich die beiden selbst ohne Worte zu verstehen. Erstmals gibt es ein Schweigen, welches nicht eine Bewältigungstrategie oder ein Kommunikationsproblem ist, sondern positiv konnotiert ist.
Gleichzeitig fragt man sich, ob Honora angesichts des offenen Endes des Buches, welches mit dem Wegritt von Prosper und Mary endet, mit Joseph wirklich glücklich werden kann, ob es für die beiden eine Zukunft gibt, wenn sie beide im “dazwischen” bleiben müssen und wollen. Gleichzeitig scheinen beide die Voraussetzungen und das Wissen, die Intuition und die Stärke zu haben, um in der Wildnis zu überleben. Aber ob die Zivilsation ihnen den Platz lässt? Auch fragt man sich, was aus Prosper, Mary und dem Kind wird, ob die wirklich neu anfangen können mit Ignatius’ Leiche auf dem Grundstück und dem ganzen Trauma von dem was sie soeben erlebt haben?