Fanny
Liebe alle
Ich habe heute meine laaange Zugfahrt genutzt und habe nun aufgeschlossen. Die Geschichte macht mich sehr traurig und erinnert mich sehr stark an eine Bekannte, die mich sehr an Agathe erinnert und ich langsam verstehe, was mit ihr los ist. Ich hoffe nur, dass es Agathe nicht so ergeht wie ihr und sie in der Psychiatrischen landet…
Deswegen ist Agathe’s Zustand für mich wohl etwas fassbarer. Man bedenke, dass sie in einem sehr streng reglementierten Umfeld aufgewachsen ist, in dem ganz klar vorgegeben wird, was gut und was schlecht ist. Das ganze wird stark religiös aufgebauscht, da Gott indirekt vorgibt, was gut und was schlecht ist. Agathe hat absolut keine Möglichkeit, über ihr inneres Begehren mit jemandem zu sprechen. Sie erachtet sich selber als schmutzig, unrein und sündig. Die Mutter ist labil - oder macht solch einen Eindruck. Inwiefern sie wirklich labil ist oder sich einfach ihrem Schicksal ergeben hat, ist für mich (noch) nicht ganz fassbar. Sie ist allerdings die einzige, die Agathe in irgendeiner Form unterstützt und ihr auch Zuspruch gewährt. Das war für mich v.a. spürbar, als sie finanziell zurückgesteckt hätte, damit Agathe den älteren Herrn hätte heiraten können. Allerdings ist die Mutter auch in ihren eigenen Wertvorstellungen und ihrer eigenen Erziehung gefangen und wahrscheinlich auch in den gesellschaftlichen Konventionen, weshalb Agathe sich ihr sicherlich nicht anvertrauen kann.
Dann ist da der patriarchalische Vater, der einerseits eine züchtige, wohlerzogene Tochter möchte, die den Konventionen entspricht und gleichzeitig aber auch schön zu Hause sein soll und ihn unterhalten bzw. später dann pflegen soll. Ich denke, das ist auch der Grund, weshalb er Agathe in ihrem Tun nicht wirklich unterstützt. Er stutzt ihr quasi die Federn. Von Agathe wird einerseits erwartet, dass sie eine gute Hausfrau und später wohl auch Mutter abgeben würde. Später wandelt sich das etwas, da sie noch immer nicht unter der Haube ist. Aus ihr wird also eher eine alte Jungfer, die sich bitte sozial zu engagieren hat, sich mit Gleichgesinnten treffen soll und sich zu Hause um ihre betagten Eltern zu kümmern hat.
Agathe ist also in einer streng konservativen Umgebung aufgewachsen, in der es absolut keinen Raum für junge Frauen gibt, sich selber entfalten zu können. Gegenüber ihren Freundinnen gilt sie als fromm und prüde - obwohl sie in ihrem Innern absolut nicht so ist. Ihr wurde aber eingebläut, dass sich so fromme und ,,gute’', wohlerzogene Frauen zu verhalten haben. Demnach ist sie in ihrem Innern eigentlich offen und vielleicht modern, kann das gegen aussen aber nicht ausleben, weil sie zu wenig Mut hat, dies zu tun. Demgegenüber ist da Eugenie, der einfach völlig egal ist, wer was von ihr denkt und ihr Leben so lebt, wie sie das für richtig hält. Eugenie und auch die Geschichte mit Frau Denise und Lutz erschüttert Agathe in ihrem tiefen Glauben und ihrer strengen Erziehung. Das ist wohl auch der Grund, weshalb sie mit diesen Situationen derart Probleme hat und sie diese so gar nicht einordnen kann.
Die Geschichte ist für mich mehr als nur aktuell. Agathe versucht verzweifelt, ihr Glück zu finden und ist sich sehr unsicher, was denn ,,ihr’‘ Glück ist. Sind das die gesellschaftlichen Erwartungen, die sie zu erfüllen hat? Sind es ihre tiefen, aber ,,gottlosen’' Empfindungen? Ist es die uneingeschränkte Liebe zu Gott, vor dem alle gleich sind, ob Männlein oder Weiblein? Irgendwie hat mich die Suche nach Liebe auch sehr an Tinder und Co. erinnert. Schon damals haben also die Jungen sich gedacht, dass da noch was besseres kommen möge. Die Geschichte um den jungen Herrn, um den sich Agathe zuletzt so bemüht hat und der dann doch eine andere geheiratet hat, hat mich da etwas wachgerüttelt. Ich hoffe nur, dass wenn Agathe dann hoffentlich zu der Erfüllung ihrer Träume gelangt, sie nicht erschrocken feststellen muss, dass die Realität so gar nichts mit den romantischen Vorstellungen und Träume zu tun hat und einen neuerlichen Nervenzusammenbruch erleidet…
Mit ,,guter Familie’‘ hat Gabriele Reuter wohl die gut situierte und gutbürgerliche Familie gemeint, die gottgläubig ist, jeden Sonntag zur Kirche fährt und da sogar ihren eigenen Bank hat. Die sich gut auszudrücken weiss und den gesellschaftlichen Konventionen entspricht. Ich denke nicht, dass sich das ,,gut’‘ auf den inneren Zusammenhalt der Familie fokussiert. Wie andere schon geschrieben haben, hat mich auch erschüttert, wie Walter mit all seinem ,,Chäs’' durchkommt und ihn die Familie schützt. Offensichtlich hat sich herumgesprochen, dass Agathe nicht begütert ist, was ihre Chancen auf dem Markt erheblich erschwert…
Ich kann mir sehr gut vorstellen, weshalb das Buch 1895 so gut angekommen ist:
- Die ,,nicht so guten Familien’‘ können 1:1 lesen, dass auch die ,,guten Familien’' nicht über alles erhaben sind;
- junge Mädchen, welche ihrerseits in diesem Korsett aufgewachsen sind, können sich wohl mit Agathe identifizieren;
- vielleicht war dieser Roman auch ein ,,Wachrüttler’'?
Leider glaube ich, dass sich Agathe von ihren inneren Zwängen nicht befreien können wird. Dafür ist wohl die Zeit noch nicht reif. Leute mit anderen Ansichten werden auch gleich (in die Schweiz XD) ausgeschafft. Dazu wird es Agathe m.E. wohl an Mut fehlen. Auch ist sie zu unsicher und hat ein zu romantisches Bild von allem, was sie sich wünscht, weil andere ihr das eindoktrinieren. Ich hoffe sehr, dass ich mich täusche.
Ich finde den Roman sehr sehr gut bisher. Ich bin richtig froh darüber, dass ich bei der Leserunde mitmachen kann. Denn es wäre wirklich sehr schade gewesen, hätte ich nie etwas von diesem Juwel gehört. Im Gymnasium mussten wir Effi Briest lesen. Das fand ich dannzumal derart schrecklich, dass ich das Buch - entgegen meinen Wertvorstellungen - weggeschmissen habe. Nun habe ich aber direkt Lust, auch dieses Buch nochmals zu lesen. Vielleicht bin ich jetzt, wo ich etwas reifer und älter bin, besser gewappnet für dieses Buch.