Belana_st CHRISTINE BRAND VERMISST
Bei Erhalt des Krimis habe ich mich noch skeptisch gezeigt, habe mich aus dem Elfenbeinturm des Lesers ernsthafter Literatur hinausgelehnt. Und was ist dann geschehen? Ich habe den ganzen Roman innerhalb von zwei Tagen gelesen, mag sein, dass das Scheisswetter (Mo/Di) ein Motiv gewesen ist, ähnlich wie für Malou (p.11) und Dario (p.32) das Wort „Scheisstag.“
Ich habe mir dann mal die Mühe gemacht, die beiden Formen auseinander zu halten: In der E-Literatur soll die Sprache über die Geschichte hinauswirken. Zu der Sprache kommt der Inhalt. In der U-Literatur steht die Geschichte im Vordergrund, während in der E-Literatur oft die Figurenarbeit wichtiger als die eigentliche Geschichte ist. (Autorenforum Montségur)
Dann hat mich noch eine Aussage des jahrelangen Moderators der Literatursendung „Apostrophes“, des vor kurzem verstorbenen Bernard Pivot, gedemütigt. “Il n’y a pas de critères ou de grille de lecture qui va indiquer si c’est de la littérature ou si ça n’en est pas. On a parfois un choc devant un livre”. = Es gibt keinen Leserahmen oder Kriterien, die anzeigen, ob es sich um Literatur handelt oder nicht. Es befällt einem manchmal ein Schock im Angesicht eines Buches.
Was sind meine ersten Eindrücke —keine Angst, ich werde nichts verraten: „Vermisst“ liest sich leicht, vor allem dank der kurzen Kapitel. Der Roman hat alle Ingredienzen eines «Tatort»: sturer Bock von einem Chef, Serienkiller und Prostituiertenmorde, Ängste der Protagonisten und die gemeinsamen Elemente ihrer Vergangenheit.
Aber Gott sei Dank ist da mehr: die beiden Protagonisten sind Einzelgänger, hervorragend gezeichnet und vor allem: sie entwickeln sich. Christine Brand kennt ihr Handwerk. Ihr Prolog ist etwas vom Besten, was ich in jüngster Zeit gelesen habe. Und meine Schlussfolgerungen über „und in dem Augenblick erschüttert ein Knall das Haus“ (p.7) ziehen sich fast 500 Seiten hin, bis sie sich nicht als komplett falsch erweisen. Es gelingt ihr, den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten. Dazu dienen ihr vor allem Spannungserzeuger, auf neudeutsch cliffhanger (der wertvollste davon wahrscheinlich auf p. 170, als ihre Tasche geklaut wird, was unzählige Möglichkeiten eröffnet), die sich fast an jedem Kapitelende befinden.
Ist sie sich dabei selbst treu, schreibt sie doch auf p. 22?: Es ist immer dasselbe: Entweder geschieht alles gleichzeitig und die Welt scheint unterzugehen, oder aber es passiert gar nichts. Zwischentöne scheint es nicht zu geben.
Nach dem anfänglichen Wechsel der Kapitel (ungerade an Louise, gerade an Dario) finden die beiden in den Kapiteln 5 und 6 beide Einträge. Viel Spass beim Lesen des zweiten Teils. Es lohnt sich…
PS: als gebranntes Kind nach einem Rollersturz mit nachfolgender Schulter-OP habe ich an ein Plagiat meiner Biografie geglaubt beim Lesen der p. 11