Ich habe “Die fernere Zukunft” von Adam Thirlwell jetzt gelesen (in englischer Fassung). Ein Buch mit vielen Vorschusslorbeeren, die ich bereits in einem früheren Post erwähnte. Unsere Gegenwart beginnt am Vorabend der französischen Revolution. Die junge 19 jährige Celine, eine peripher Figur am Hofe der Dauphin, steckt in Schwierigkeiten. Ihre Mann, ein 46 jähriger, rücksichtsloser “faschistischer” Verwaltungsangestellter, mit dem sie unter die Haube gebracht wurde, ist meistens abwesend, ihre Eltern woanders und irgendwie erfinden und schreiben Männer auf kleinen Flugblättern Geschichten über sie - über ihre Affären, ihre Sexualität, ihre Orgien und ihre Süchte. All diese Geschichten sind Lügen und doch ist die Gesellschaft von ihnen begeistert, verbreitet sie wie eine Seuche. Celine muss zuschauen wir ihr Name zum Symbol von allem Schlechten in der Welt wird. Um ihren Ruf zu retten und die Welt gleich mit, setzt sich Celine mit Ihren Freundinnen Marta, Julia und Marie Antoinette zusammen und organisiert glamouröse “Parties”, mit der Absicht, Schriftsteller in ihren Orbit anzuziehen und damit die eigene Kontrolle ihrer Lebensgeschichte wieder zu erlangen. Wie der erste Satz im Buch schon sagt: “It all began with writing”. Und später heisst es: “The world was a jungle called writing. In this world writers became politicians, and politicians wrote for newspapers and meanwhile everyone wrote to each other every day, as if an experience were not an experience until it had acquired its own image in words”.
Die Geschichte mag den Anschein erwecken, es handelte sich hier um einen klassischen, historischen Romanstoff. Aber dem ist nicht so. Vieles wirkt anachronistisch in diesem Buch. Da ist die Rede von einem faschistischen Verwaltungsangestellten und Ehemann, obwohl natürlich dieser Ausdruck erst in den 1920er Jahren durch Mussolini aufkam, da wird getextet, eine politische Intrige entwickelt sich auf einer Vorstadt Strassen-Raststätte und es gibt Take-Away von Balthazar. Auch die Protagonisten sprechen in gegenwärtiger Sprache. (“The Fuck is this?” fragt eine Person, als sie kleine Pillen in der Tasche einer Freundin findet.) Vielfach ist ein chronologischer Inter-Determinismus in der erzählenden Stimme selbst erkennbar, so dass die Vergangenheit der Story und die Präsenz des Erzählens in einem einzigen Satz einstürzen. Die nervöse Stimmung zu Beginn einer von Celine’s Parties zum Beispiel wird wie folgt beschrieben “like how people waiting for the boss to join a difficult conference call so that it can start will maintain a sprightly conversation about their children that in fact is anxious and distracted”.
Der Plot ist ein Universum, das von patriarchalen Männern regiert wird, die sich an kolonialem Völkermord, der Zerstörung der Natur, Verbrechen gegen die Frauen und vor allem an der Sprache berauschen.
“Die fernere Zukunft” ist ein seltsamer und ab und zu schwer zu greifender Roman, aber er hat die Schönheit und mysteriöse Kraft wie die Protagonistin. Auch wenn ich mir nicht immer im klaren war, was Thirlwell tut, oder warum er es tut, bestand bei mir nie ein Zweifel, dass er das sehr gut tut. Sehr empfehlenswert.