Wie würde Shakespeare in der heutigen Zeit einen Klassiker wie Romeo und Julia verfassen? Sicher ist, dass Messenger-Nachrichten und E-Mails wichtige Kommunikationskanäle wären. So macht es durchaus Sinn, aus einer Abfolge solcher Mitteilungen einen Roman zu gestalten.
Die Hauptpersonen in diesem Roman sind Stefan, seines Zeichen stellvertretender Chefredaktor eines grossen Verlagshauses in Hamburg, Single und ständig hin- und hergerissen zwischen klassischem Journalismus, wo Neutralität, Objektivität und sorgfältige Recherche oberstes Gebot sind und den Ideen jüngerer Berufskolleg*innen, die in aufklärerischer Manier die Leserschaft aus einem kollektiven Koma holen will.
Und Theresa, verheiratet, Bio-Milchbäuerin im dünn besiedelten Brandenburg. In der sozial schwachen und ziemlich vergessenen Einöde versucht sie den kargen Sandböden genügend Futter für ihre 200 Milchkühe abzutrotzen und sich im Kampf gegen die verschiedenen Ämter und Ministerien zu behaupten.
Die beiden verbindet eine drei Jahre dauernde WG-Zeit und Erinnerungen an radikal-ehrliche Gespräche über Gott und die Welt. Diese liegt zwanzig Jahre zurück und endete mit einer Notiz auf dem Küchentisch.
Und es trennt sie nicht nur die räumliche Entfernung, sondern auch jegliche Gegensätze, die in Deutschland aufeinandertreffen können: Stadt und Land, alte BRD und Ex- DDR, Linksorientiert und AfD-Verständnis.
Das ungleiche Paar verhöhnt, kritisiert, hinterfragt und findet doch immer wieder Zugang zum Gegenüber, nicht zuletzt, weil beide Zeugen und Opfer verschiedenster Widrigkeiten ihrer Zeit werden. Ob wohl eine gemeinsame Flucht ein Weg wäre, um alldem zu entkommen?
Juli Zeh und Simon Urban ist es gelungen, einen zeitgenössischen Roman zu verfassen, der sich verschiedensten, aktuellen Themen annimmt. Der Dialog zwischen Theresa und Stefan zwingt uns, unsere eigenen Haltungen und Standpunkte zu hinterfragen. Und der Roman ist auch ein warnender Zeigefinger, der uns zur Vorsicht mahnt, wenn es darum geht, vorschnell Meinungen anderer blindlings zu übernehmen. Stefan versinnbildlicht die Erhaltung einer Meinungsvielfalt und will als Journalist möglichst viele Stühle in einen möglichst grossen Raum stellen. Und Theresa entgegnet ihm darauf, dass Grauzonen trockengelegt, Ambivalenzen ausradiert würden. Sie befürchtet, dass sich die Gesellschaft Zweifel demnächst nicht mehr leisten könne. Ich würde hier anfügen, ein kleiner Beitrag gegen diese Entwicklung könnte sein, dieses Buch zu lesen!