Völlig von den Socken gehauen hat mich Kim de l’Horizon mit dem nun zweifach ausgezeichneten Debütroman “Blutbuch”.
Da wäre allein die Sprache:
- bewusst wird hier mit der Satzlänge gespielt, was opulent oder abgehackt wird, je nach Alter und Stimmung der Erzählfigur
- Deutsch, Neu-Deutsch, Mundart, ein bisschen Französisch und Englisch sind zu einem faszinierenden Sprachteppich verwoben worden
- all diese treffenden Adjektive, die dem Roman – erneut – Opulenz verleihen
- und dieses Sprachgefühl: Wie de l’Horizon der Sprache nachforscht, dem Französischen in seiner Alltagssprache, das für die Grossmeer Zeichen des gesellschaftlichen Aufstiegs, aber eigentlich Sprache der französischen Besatzer war; der Sprache im Pflegeheim, wo es keine Personalpronomen mehr gibt ausser dem unpersönlichen “man” und somit alle Bewohner*innen allein durch den Sprachgebrauch ihre Individualität verlieren; und natürlich nutzt de l’Horizon eine gendersensible Sprache, die fast unbemerkt den Text mitprägt, ganz zu schweigen von Neuschöpfungen, wie “absenfen”, an denen ich enorm Freude hatte
Dann die Erzählstile und -weise: Briefe, Recherchesammlungen, Rückblenden und direkte Ansprachen prägen die fünf Teile der Erzählung und geben ihnen jeweils einen ganz eigenen Stil, eine eigene Tonalität und tragen ebenso zur Vielseitigkeit bei. Wir werden direkt angesprochen und auch auf diese Weise direkt reingezogen in die Geschichte.
“Ich bitte um einen kleinen Vertrauensvorschuss: Das scheint jetzt alles random, aber Goethe und Parks wie jener von Volksbeschützer Franz werden wichtig sein, um zu verstehen, wie die Blutbuche im Garten meiner Familie landete. I swear!”
Hinzu kommen die kulturelle Verweise auf andere Bücher, Erzähler*innen, Filme, Musik, teils den einzelnen Teilen als Zitat vorangestellt oder auch als direkte Referenz im Fliesstext, was dem Roman zudem etwas enorm Informatives verleiht.
Das klingt jetzt womöglich alles etwas überfrachtet, aber das ist es nicht, sondern es fügt sich alles mühelos zu einer genussvollen Lektüre zusammen!
Und natürlich ist da die Erzählung selbst, dieser Versuch, sich der Grossmutter, der Familiengeschichte zu nähern über die Blutbuche und die Geschichte dieser Baumart, was im dritten Teil fast wissenschaftlich anmutet und sich im vierten Teil beinah wie ein historischer Roman liest, wenn der weibliche Stammbaum der Familie aufgefächert wird. Es ist der Versuch, nicht nur sich selbst vom Erbe vorangegangener Generationen zu befreien, sondern auch die Meer und die Grossmeer zu befreien und neu auf die Welt zu bringen, als eigenständige Personen, losgelöst vom gesellschaftlichen Narrativ (Hausfrau, Mutter etc.). Gleichzeitig ist es Selbstreflektion des eigenen Lebens, der Frage nach Identität, beides im Spiegel der Gesellschaft.
Ich bin während der Lektüre aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, habe mich begeistern und verzaubern lassen und wurde zum Nachdenken angeregt über unzählige Aspekte – zum Beispiel die Art und Weise, wie wir Geschichten und auch unsere eigenen Geschichten erzählen. Und wahrscheinlich habe ich die Hälfte der erwähnenswerten, grossartigen Aspekte des Buches vergessen zu erwähnen, daher meine Empfehlung: unbedingt selber lesen, es lohnt sich!