REZENSION
Der Erzähler Jules Moreau erwacht nach einem Motorradunfall im Spitalbett.
Er lässt sein ganzes Leben chronologisch Revue passieren und entdeckt dabei, dass es eine äussere und eine innere Welt gibt. In seinem philosophischen Abdriften geht er so weit, die Zeit in Frage zu stellen.
Was, wenn es die Zeit nicht gibt? Wenn alles, was man erlebt, ewig ist und wenn nicht die Zeit an einem vorübergeht, sondern nur man selbst an dem Erlebten? Ich frage mich das oft. Man würde zwar dann die Perspektiven wechseln und sich von geliebten Erinnerungen entfernen, aber sie wären noch immer da, und könnte man zurückgehen, würde man sie dort noch immer finden. (p. 327)
Eine untypische Passage, denn durch die ganze Erzählung gelingt es Benedict Wells mit seinem realistischen, fesselnden, vor allem nicht wertenden Ton das Schicksal dreier Generationen, die alle mit tiefgreifenden Verlusten konfrontiert sind, ohne Geflenne, Selbstmitleid zu schildern. Der Leser wird durch diesen unaufdringlichen, niemals larmoyant wirkenden Stil in die lebensnah geschilderte Dramatik einbezogen und von ihr aufgesogen.
Eine tolle Leistung eines solch jungen Schriftstellers. Zahlreiche als Leuchtturm gesetzte, wiederkehrende Elemente (Baumstamm, erwähnte Bücher, Autofahrt) halten den als Rahmenerzählung aufgebauten Plot zusammen.
Der schreckliche Unfalltod seiner Eltern und die anschliessende Verfrachtung samt seiner älteren Geschwister Liz und Marty in ein Internat machen aus dem einst selbstbewussten Jungen ein seelisches Wrack. Er fühlt sich von allen im Stich gelassen und findet sich auch in seiner Vergangenheit nicht mehr zurecht.
Eines Tages erscheint eine Art Rettungsring: Ein scheues Mädchen namens Alva tritt in seine Klasse ein. Das geheimnisvolle Mädchen erregt seine Aufmerksamkeit und später mehr.
Aber unvorhergesehene Ereignisse und Jules’ Fehlinterpretationen ihres Verhaltens verzögern ihr Zusammenfinden um Jahre. Um Minuten gekämpft, wenn es darum ging, einen Bus noch zu erreichen, Jahre verschwendet, weil ich nicht das getan hatte, was ich wollte. (p. 187)
Auf ihrer Selbstfindung, die zur Umsetzung des Titels führen soll, betreten die Kinder der Familie Moreau völlig auseinanderdriftende Wege (Ich stosse ins Innere vor und sehen ein Bild klar vor mir. Wie unser Leben beim Tod unserer Eltern an einer Weiche ankommt, falsch abbiegt und wir seitdem ein anderes, falsches Leben führen. Ein nicht korrigierbarer Fehler im System. P. 133).
Wir lernen dabei gangbare und unratsame Wege kennen:
Liz, die Älteste gibt sich einem ausschweifenden Hedonismus hin. Sie lässt nichts anbrennen. Sie probiert ihrer Einsamkeit zu entfliehen, indem sie über die Stränge haut. Von ihren Geschwistern kann sie keine Unterstützung erwarten, denn Martys Nihilismus und Zynismus tut sie als abgedrehte Verleugnung des Sinns des Lebens ab, und Jules ist ganz einfach zu jung, um sie zu verstehen.
Marty zieht sich in seine Computerwelt zurück — Es war, als hätte man Woody Allen gezwungen, noch einmal die Pubertät durchzumachen p.61 — schlägt eine erfolgreiche Karriere ein und erweist sich schliesslich, als bei Jules Not am Manne ist, völlig unerwartet — Wenn ich in jenen Jahren an meinen Bruder dachte, dann hatte ich immer das Bild einer geschlossenen Türe vor Augen.(p.64)— als Helfer in der Not.
Jules Moreau, der moralische Anker der Familie, erkennt irgendwann, dass sein Rencontre mit seinem Vater kurz vor dessen Tod nichts zu diesem Ereignis beigetragen hat. Nach unsäglichen Wirren und unvermuteten Schlägen des Schicksals stellt sich dieser «Romantiker» dem Leben: sinnbildlich zeigt er seinem Sohn Vincent, dass er wieder, wie einst als junger Bub, den Mut aufbringt, über einen über einen Fluss gelegten Baumstamm zu balancieren.
Geholfen hat ihm dabei seine Seelenverwandte Alva — ein charakterlicher Gegenentwurf zu seiner Schwester—, auch sie geprägt von einem ergreifenden Familienschicksal.
Geholfen hat er aber vor allem sich selber, als er sich einen Ruck gibt und erkennt, dass er sich der anfänglichen Einschätzung [(äussere Realität): Man war und blieb der, für den die anderen einen hielten. P. 55 zur Erkenntnis durchringt, dass ich aufgrund von unbewussten Schuldgefühlen meine besten Jahre vergeudet hatte, in ein falsches Studium gestolpert war und wieder zur Kamera griff…, dass ich mir all die Jahre das Schreiben versagt hatte, obwohl ich es liebte. (p. 215)] entsagen muss, um sich selbst zu retten.
Kierkegaard sagt dazu: Das Selbst muss gebrochen werden, um Selbst zu werden. Um sein wahres Ich zu finden, ist es notwendig, alles in Frage zu stellen, was man bei der Geburt vorgefunden hat. Manches davon auch zu verlieren, denn oft lernt man nur im Schmerz, was wirklich zu einem gehört… Es sind die Brüche, in denen man sich erkennt. (p.276)
Am Ende des Buches ist Jules bereit, sich dem Leben zu stellen, er ist in der inneren Realität angekommen. Er kann seine Einsamkeit beenden.
Selbst die erwähnten Bücher im Buch tragen zum Verständnis bei, allen voran Hemingways Kurzgeschichte «Schnee auf dem Kilimandscharo»: Harry, der auf Safari ist, steht im Zentrum. Verletzt am Bein, erwartet der gejagte Jäger seinen Tod und muss sich eingestehen, dass er seinen Traum, Schriftsteller zu sein, nie verwirklicht hat und stattdessen er einem Leben voller Resignation und Zeitvergeudung verfallen ist.[1]
Wie Jules wird auch Harry von Erinnerungen ermahnt und beginnt, diese zu interpretieren.
Langer Rede kurzer Sinn: Jeder ist für sein Glück selber verantwortlich oder gewagt: Die Einsamkeit ist in der inneren Welt zu finden, das Ende derselben in der realen.
853 Wörter
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[1] https://www.studysmarter.de/schule/englisch/englische-literatur/schnee-auf-dem-kilimandscharo/