The-Lord-Pepper Irgendwie habe ich das Bedürfnis, noch ein paar weitere Überlegungen zu “Unter Strom” zu notieren: das Buch geht mir nicht aus dem Kopf (leider), ich glaube aber, das hat sehr viel damit zu tun, dass ich es hier in der Leserunde gelesen habe, und dass ihr alle euch ebenfalls viele Gedanken macht, diese teilt, und damit wiederum auch mich zum Nachdenken bringt.
KhaleesiG hat grad obendran was interessantes geschrieben: Dass der Autor allenfalls Extreme zwischen konservativen und modernen Genderüberlegungen darstellen will. So was ähnliches ist mir auch durch den Kopf gegangen, und ich halte es für gut möglich, dass das mit reinspielt. Was an sich ja auch sehr viel spannende Möglichkeiten bietet. Einer der positiven Aspekte des Buches war für mich, dass durchaus sehr aktuelle Themen - Genderfluidität, Homosexualität, Emanzipation, unterschwelliger Rassismus, häusliche Gewalt etc. - in die Vergangenheit “transportiert” wurden. Man kann jetzt sagen “das sind nur rund 25 Jahre” - aber wenn man von einem Vierteljahrhundert spricht, klingt das schon ganz anders. @Fanny hat ja schon nach Tag eins danach gefragt - die diversen 90er-Anspielungen fand ich grundsätzlich gelungen (wie zB der für Menschen noch neue Umgang mit Natels), und die Verknüpfung von Themen, die heute breit diskutiert werden mit einer Zeit, in der noch viel mehr totgeschwiegen wurde weil nicht sein kann was nicht sein darf ist (obwohl all diese Themen damals wie heute gleichermassen relevant sind / waren) ist sehr interessant. Was mir zusätzlich gefällt - mit den 90ern ist das Buch in einer Zeit angesiedelt, zu der die meisten der Mitleser und -schreiber in der Runde vermutlich selber noch einen Bezug haben, das macht es greifbarer als wenn zB die 60er gewählt worden wären, was doch für deutlich mehr Menschen heutzutage schon vor dem eigenen bewussten Erleben liegt. Wie ausführlich beschrieben gefällt mir der Umgang des Autors mit diesem “Muster” nicht, aber an sich finde ich das gelungen.
Eine andere Frage, die ich mir jetzt schon ein paar Mal gestellt habe: Warum ist der Autor so versessen darauf, immer wieder Markennamen zu verwenden? Warum kann er nicht einfach von einem Fotoapparat sprechen, sondern muss immer “Leica Point-and-Shoot” schreiben? Warum muss er laufend betont von Paco Rabanne, Jil Sander, etc. Kleidungsstücken sprechen? Warum immer “Norton” statt “Motorrad”? Zugegebenermassen triggert mich diese Art zu (be-)schreiben etwas, ich habe aber nicht die geringste Ahnung warum 😂 Ich ordne den Autor - nachdem was ich über ihn gelesen habe - als jemanden ein, der Konventionen und Statussymbole eher ablehnt, da frage ich mich, ist damit auch eine Art versteckter Gesellschaftskritik gemeint? Im Sinne davon, selbst wenn du dir Luxus und Statussymbole leisten kannst, bist du nicht davor geschützt, in deinem Inneren eine abgefuckte, einsame Person zu sein? Oder ist es des Autors eigener latenter Neid, der hier durchkommt weil er diese schönen Dinge auch gern (gehabt) hätte? Oder ist es schlicht nur der eher hilflose Versuch, die Geschichte durch Konkretisierung von Details greifbarer zu machen (was dann in meinen Augen aber misslungen ist, denn ich empfinde die Art der Beschreibung solcher Details im Buch als verkrampft im Sinne von “gewollt ist nicht gleich gekonnt”).
Was mich auch nicht loslässt, ist die “Identität” von Nina. In den wenigen Momenten, die wirklich eine erkennbare Interaktion mit der in der Gegenwart stattfindenden Personen beschreiben, wird Nina konsequent als Mann angesprochen. Ich frage mich damit wirklich, ob das ganze Buch vielleicht sogar nur ein Rausch-Traum eines - vermutlich auch durch die Vergangenheit verstörten - Mannes auf der Reise in die und in der Schweiz ist, der sich selber gerne als Nina sieht oder gerne eine Nina wäre? Ich glaube nicht, dass das wirklich die Story ist, denn es gibt zu viele Elemente, die nicht zu dieser Theorie passen, aber zwischendrin drängt sich mir diese Frage trotzdem auf. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich die Protagonistin (ich bleibe jetzt bei der Frau) als vielschichtig oder im Gegenteil viel zu eindimensional beurteilen soll.
Zuletzt nochmals ein Gedankensprung zum Cover: Verschiedene Vorschreiber hier haben sich ja auch Fragen zur Farbwahl gestellt - es drängt sich ein etwas unappetitlicher Gedanke auf: Hat das mit der Menstruationssache zu tun? Fände ich dann schon wirklich arg derb, mal abgesehen davon, dass ich bis jetzt nicht kapiere was diese Mens durchs ganze Buch hindurch zur Geschichte beiträgt.
Man sieht, das Buch kann einem auch bei grosser Ablehnung zu viel Nachdenken anregen. Ohne die Leserunde hier hätte ich das nicht gemacht, und darüber bin ich eigentlich dankbar, das ist eine sehr interessante Erfahrung. Ich scheue mich ein wenig vor der Annahme, dass ein solcher Umgang mit dem Buch die Absicht des Autors gewesen sei, denn (wiederum nur aufgrund dessen, was ich über Tom Kummer gelesen habe) ich halte den Autor eher für jemanden, der einfach gern provoziert, als für jemanden, der sich so viele vielschichtige Gedanken darüber macht, wie seine Leser das Buch aufnehmen und hinterfragen können.
Nach dem Aufschreiben dieser Gedanken beabsichtige ich nun, das Buch auch ganz wegzulegen, und mich meinem nächsten - voraussichtlich viel entspannteren - Leseprojekt zu widmen. Danke, dass ich bei der Runde dabei sein durfte, und ich hoffe sehr, ich werde bald wieder für ein neues Buch ausgelost 😊